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Im alten Saatgutsillo in Bergholz-Rehbrücke soll Anfang September auf 1800 Quadratmetern Kunst zu sehen sein.

© Andreas Klaer

Wie ein Getreidespeicher zum Ausstellungsort wird: Fünf Etagen Kunst

Der Getreidespeicher in Bergholz-Rehbrücke steht seit 1991 leer. Anfang September will ein Künstlerkollektiv ihn beleben - und auch langfristig soll ein Kreativort entstehen.

Potsdam - Der Getreidespeicher zwischen Bergholz-Rehbrücke und Potsdam gehört zu den bekannten Unbekannten. Mehr als 30 Meter hoch, unweit des Bahnhofs Rehbrücke in einem Industriegebiet gelegen, ist er kaum übersehbar. Vielen dürfte das Industriedenkmal von Außen vertraut sein, nur wenige haben es je legal betreten. Seit 1991 wurde der Speicher nicht mehr genutzt. Lange war er ein Hort für Sprayer. Seit einiger Zeit kommen auch die nicht mehr rein.

„Durch alles, was nicht nach Beton aussieht, kann man nach unten fallen“

Die Künstlerin Jenny Alten aber hat jetzt einen Schlüssel. Noch stolzer als auf den Schlüssel ist Alten auf die Nutzungsgenehmigung, die sie von der Gemeinde Rehbrücke für das Gebäude erhalten hat. Auf immerhin fünf von neun Etagen darf Anfang September Kunst gezeigt werden. Die oberen vier sind den Behörden zu baufällig, auch der Rest darf nur mit Führung betreten werden.

Die Etagen sind durch offene Röhren verbunden, durch die früher tonnenweise Getreide strömte. „Durch alles, was nicht nach Beton aussieht, kann man nach unten fallen“, warnt Jenny Alten beim Rundgang. Sie mag Aufgaben, die zunächst unlösbar wirken. Neue Materialien, neue Orte, neue Dimensionen. Im Getreidespeicher sind es rund 1800 Quadratmeter Ausstellungsfläche, die es zu bespielen gilt. Das sind 500 mehr als im gesamten Potsdam Museum.

Früher wurden hier tonnenweise Getreide getrocknet und gelagert. Seit 1991 steht der Speicher leer.
Früher wurden hier tonnenweise Getreide getrocknet und gelagert. Seit 1991 steht der Speicher leer.

© Andreas Klaer

Ein Investor mit großen Plänen

Das Industrieareal in Rehbrücke umfasst insgesamt etwa 7,5 Hektar, vier davon gehören Daniel Panzer, der in Berlin eine Praxis leitet - für Schönheitschirurgie. Vor zwei Jahren stellte Panzer, der sich als Investor auch schon für die Alte Post und das Minsk interessiert hatte, gemeinsam mit der Architektin Katharina Rathenberg großangelegte Pläne für das Areal vor: Uni-Campus, Wohnungen, moderne Lagerhallen, Raum für Startups. Damals gab es noch keinen Bebauungsplan.

Inzwischen gibt es zwei, wie Projektleiterin Rathenberg sagt: „Einen kleinen, vorhabenbezogenen B-Plan für die Fläche, wo Wohnungen entstehen sollen - und einen großen für das Areal insgesamt, Speicher inklusive.“ Auch Eigentümer Panzer will hier Rathenberg zufolge einen Ort für Kunst errichten. 

Ateliers, ein Restaurant, aber auch Büros - ein Mix wie im Rechenzentrum. Weil nicht alles auf einmal geht, sei eine Teilöffnung vorstellbar, sagt Rathenberg. Eine „philanthropische Etage“ für Ausstellungen zum Beispiel. In drei Jahren sieht sie den Ort startklar. „Er hat jetzt Priorität für uns.“ Für all das ist die geplante Ausstellung ein Testlauf.

Die Performerin Finja Sander ist eine von 40 Künstler:innen, die im Getreidespeicher ihre Kunst zeigen werden.
Die Performerin Finja Sander ist eine von 40 Künstler:innen, die im Getreidespeicher ihre Kunst zeigen werden.

© Andreas Klaer

Eine Utopie, die greifbar geworden ist

Jenny Alten hat den Speicher erstmals 2006 wahrgenommen, damals auf der Suche nach einer Kita. Sie verirrte sich, der hohe Turm unweit der Gleise fiel ihr auf und blieb seitdem im Hinterkopf. Als sie 2021 mit dem befreundeten Künstler Udo Koloska in der Nähe spazieren ging, rückte der Turm wieder in den Blickwinkel der beiden. Zusammen mit dem in Zeiten des Lockdowns utopischen Gedanken: Einen Ort zu schaffen, an dem Künstler:innen wieder zusammenkommen, sich austauschen, Werke sehen können.

Jetzt ist die Utopie greifbar geworden. Jenny Alten und Udo Koloska sitzen im Erdgeschoss des Neungeschossers, an einem Tisch mit der Kulturarbeiterin Lea Budzinski und dem Künstler Phillip Langer, sie alle gehören zur Künstlergruppe Artifact e.V. Auch Mike Gessner, Leiter des Kunstraumes Potsdam in der Schiffbauergasse, ist da. Gemeinsam wollen sie Anfang September das Betonungetüm wiederbeleben, zehn Tage lang.

Die Initiator:innen des Projekts sind Phillip Langer, Lea Brdzinski, Mike Geßner, Jenny Alten und Udo Koloska (v.l.n.r.). Finja Sander (2.v.r) stieß später dazu.
Die Initiator:innen des Projekts sind Phillip Langer, Lea Brdzinski, Mike Geßner, Jenny Alten und Udo Koloska (v.l.n.r.). Finja Sander (2.v.r) stieß später dazu.

© Andreas Klaer

Die Stadt unterstützt mit bescheidenen 6000 Euro

Wenn das Geld zusammenkommt, soll es weitergehen - hier im Speicher oder auch woanders. „Nicht ob es dann weitergeht ist die Frage, sondern wo“, sagt Alten. In diesem Jahr ist alleinige Unterstützerin die Landeshauptstadt Potsdam - mit bescheidenen 6000 Euro Projektförderung. Was nicht nur an den knappen Mitteln der kommunalen Kasse liegt, sondern auch daran, dass sie viel zu wenig beantragt haben, wie Lea Budzinski sagt. Das Projekt ist ein abenteuerliches Novum für alle Beteiligten. Verdienen wird daran niemand.

Dennoch werden vierzig Künstlerinnen und Künstler vom 3. bis 11. September hier ihre Werke zeigen - das Interesse an dem rohen Ort war groß. Das gemeinsame Thema: Speichern. Versammelt sein werden Positionen aus Potsdam und Berlin, aber auch aus Taiwan, Island, Kanada und der Ukraine.

Erbaut wurde der Speicher 1963 als Prototyp. "Ein Exportschlager", wie Künstlerin Jenny Alten sagt.
Erbaut wurde der Speicher 1963 als Prototyp. "Ein Exportschlager", wie Künstlerin Jenny Alten sagt.

© Andreas Klaer

Korn, ein hochaktuelles Thema

Mit dem renommierten Künstler Artem Volokitin ist Alten freundschaftlich verbunden, er arbeitet wie sie im Potsdamer Freiland. Durch den Invasionskrieg Russlands in der Ukraine hat das zentrale Motiv der geplanten Ausstellung eine Aktualität gewonnen, mit der zu Beginn niemand gerechnet hatte: das Korn. Getreideknappheit ist in aller Munde. Früher konnten in dem Speicher drei Kilotonnen Getreide bearbeitet werden, über gewaltige Rohre wurden sie nach oben geblasen und getrocknet. Heute wären diese Massen wertvoller denn je.

Als der Kornspeicher 1963 errichtet wurde, war er ein Prototyp, „ein Exportschlager“, sagt Jenny Alten, die sich mit der Geschichte des Ortes befasst und Werbebroschüren des VEB „Kombinat Fortschritt Landmaschinen“ studiert hat. Die monumentale Höhe des Baus war durchaus politisches Statement: In den neun Stockwerken zeigte die DDR auch das Vertrauen in sich selbst und die eigene Wirtschaftskraft - die natürlich von der Ideologie des „Arbeiter- und Bauernstaates“ nicht zu trennen war.

Das marode Gebäude als Bild für eine marode Ideologie

Der Künstler Udo Koloska sieht in dem maroden Gebäude auch ein Gleichnis auf die untergegangene DDR. In seiner Arbeit vor Ort will er daran anknüpfen: Den ehemaligen Trockner, einen übermannshohen Apparat aus rostigem Metall, will er in eine Art Zeitmaschine verwandeln. Das kommunistische Manifest von Karl Marx soll in dem metallenen Resonanzraum wiedergegeben werden - übersetzt ins Morsealphabet. Beide, Manifest und Morsealphabet, entstanden 1848.

Einen knappen Monat vor Ausstellungsbeginn braucht man noch Fantasie, um sich die Gänge als Kunstareal vorzustellen. Wo die Berliner Performerin Finja Sander mit dem eigenen Körper den Raum erkunden wird, öffnet sich ein Loch in der Wand, in das jemand Reste von Betonpuder geschaufelt hat. Am Boden rotes Puder: Beizmittelreste, damit das Getreide nicht schimmelte.

Da, wo zwischen zwei Etagen eine meterbreite Öffnung klafft, will Philip Langer seine Arbeit platzieren: eine riesige Mehlmotte. Der Potsdamer Künstler arbeitet mit Schellack. Am liebsten hätte er den Raum mit den Spuren von Tierkot, Staub, Wolle und Staub, die die Zeit hier hinterlassen hat, gar nicht verändert. „Der Mensch hat ja eine Tendenz, immer alles dominieren zu wollen.“ Dass im Speicher dreißig Jahre lang nichts geschehen sei: ein Irrtum, sagt er. „Der Ort hat gelebt, nur eben ohne uns.“ 

„Speichern“, 3. bis 11.9. im Getreidespeicher, Ladestraße 1, Bergholz-Rehbrücke

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