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Dietrich Schönherr.

© Andreas Klaer

Weihnachtslieder: „Jingle Bells ist das Schlimmste“

Der Potsdamer Kantor Dietrich Schönherr spricht über den Ursprung der Weihnachtslieder und warum die alten die schönsten sind.

Herr Schönherr, sind Sie übersättigt vom Weihnachtsgebimmel oder singen Sie zu Hause noch Weihnachtslieder?
 

Ja, wir singen, vor allem wenn die Kinder und Enkelkinder da sind.

Haben Sie ein Lieblingslied?

„Es ist ein Ros entsprungen“. Das ist eines der wichtigsten und ältesten Lieder, die Melodie stammt aus dem 16. Jahrhundert. Ich mag sehr den Satz von Praetorius. Wir veranstalten jedes Jahr ein großes Familientreffen am dritten Feiertag und dann werden mindestens eine Stunde lang mehrstimmige klassische Weihnachtslieder gesungen.

Was ist mit den neuen, meist englischen Liedern?

Oh nein, das ist furchtbar, und Jingle Bells ist das Schlimmste. Aus Sicht der Religion hat das nichts mit Weihnachten zu tun.

Wann beginnt denn die Tradition der Weihnachtslieder?

Die ersten Weihnachtslieder erzählen von der Ankunft Jesu, der gekommen ist, um Erlösung zu bringen. Die Verkündigung steht im Mittelpunkt. Deshalb wird gesungen „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär“. Diese ersten Lieder entstehen um die Zeit von Luther und sind so eine Art Propaganda. Die Form des Liedes wird genutzt, die Botschaft unters Volk zu bringen.

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Weil man sich eine Melodie besser merken konnte als einen einfachen Text?

Ja, Melodie und Reim, das merkte man sich. Das funktioniert etwa wie die Malerei an den Emporenwänden in manchen alten Dorfkirchen, wo biblische Geschichten erzählt werden. Die allermeisten Leute konnten nicht lesen, die brauchten Bilder oder eben Lieder. Und für mich als gläubiger Mensch ist diese Botschaft der alten Lieder – dass es Erlösung geben wird – noch immer gültig und frisch. Gott bietet uns nach wie vor seine Hilfe an. Aber das erfordert eben auch eine Antwort von uns an Gott! Und so entstanden wiederum Lieder, in denen die Antwort gesungen wird, eine Reaktion auf die Verkündigung. Ganz typisch zum Beispiel „In dulci Jubilo, nun singet und seid froh“, das ist eine Würdigung von Gottes Angebot. Und dann kommt Bach. In der Bachzeit wird das Thema Weihnachtslied theologisch vertieft.

Was heißt das?

Das Lied wird auf die individuelle Beziehung zwischen dem einzelnen Gläubigen und Gott gehoben. Bei Paul Gerhard, dem großen Kirchenlieddichter, wird alles sehr innig und persönlich. „Wie soll ich dich empfangen und wie begegne ich dir“ – auch ein Choral in Bachs Weihnachtsoratorium – mit diesem wird ganz direkt den einzelne Mensch angesprochen.

Wer denkt denn heute noch an diese Zusammenhänge? Wird das nicht meist so daher gesungen?

Ja, und in Kaufhäusern, auf Weihnachtsmärkten und Weihnachtsfeiern läuft es immer schön im Background. Das passt dazu, dass sich heute vor allem jeder selbst wichtig nimmt. Wir sind heute Individuen, keine Gruppe mehr, die sich zum Bespiel über eine gemeinsame Religion identifiziert. Diese Entwicklung begann schon im 19. Jahrhundert, als man auf die Idee kam, dass man sich aus Anlass der Freude – über die Weihnachtsbotschaft – ruhig was Gutes tun oder eben sogar etwas schenken kann. Da steht dann der einzelne mit seinem Tun plötzlich im Mittelpunkt.

Welche Lieder gibt es aus dieser Zeit?

„Süßer die Glocken nie klingen“. Da sieht man vor sich die fetten, leuchtenden Weihnachtsbäume, unter denen Berge von Geschenken liegen. Und aus dem Kind in der Krippe, dem armen Würstchen, das kaum überleben kann, wird das süße Jesuskindelein. Alles wird gefühlsduselig, romantisch, märchenhaft. Bei „Stille Nacht“ geht doch jeglicher Realismus von der armen Geburt in einem Stall verloren. Es sollte in den Liedern um Gott gehen und nicht an irgendwelche mütterlichen oder väterlichen Gefühle dem kleinen Jesuskindelein im lockigen Haar gegenüber appelliert werden. Zeitgleich gewinnt damals der Glanz des Festes an Bedeutung.

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Aber das ist doch schön. Der Glanz.

Ja, dagegen ist nichts zu sagen. Aber die Frage ist doch: Hat dieses Fest eine Bedeutung für unser Leben? Heute ist es ein Fest der Liebe und des Schenkens.

Was haben Sie gegen ein Fest der Liebe?

Nichts, aber früher war die Liebe Gottes damit gemeint. Wenn die Liebe zueinander, die wir heute meinen, hier entspringt, dann hat es auch einen Sinn. Aber diese Bindung zum Ursprung von Weihnachten ging den meisten Menschen verloren. Man kann ihnen das nicht übel nehmen – man könnte Weihnachten dann auch ausfallen lassen.

Aber wir kommen nicht los davon. Es gab ja auch immer neue Weihnachtslieder. „Morgen Kinder wird's was geben“, das ist doch eigentlich ein schönes Lied.

Das darf man auch singen, aber es wird darin halt das Familienfest betont. Das hat ja mittlerweile nur noch Volksfestcharakter. Meine These ist, wenn wir probeweise zehn Jahre lang kein Weihnachten hätten, keine Märkte mit Gedudel, keine Geschenke, keinen Stress – wir würden damit ganz gut zurechtkommen. Wir würden Geld sparen und Zeit und könnten unsere Zuneigung wieder direkt der Familie oder den Nachbarn zukommen lassen. Ohne Umweg über dieses kommerzialisierte Fest. Jeder kann ja feiern, was er will, aber wir sollten dafür nicht das Evangelium missbrauchen. Ich denke immer wieder an den großartigen Satz, den der frühere Pfarrer Heilmann aus Caputh einmal sagte: Die Hauptsache ist, dass die Hauptsache die Hauptsache bleibt.

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Wo findet man denn etwas von der Hauptsache während der Feiertage in Potsdam? Das Weihnachtsoratorium im Konzertsaal – funktioniert das noch?

Also, man könnte ja sagen, Bach funktioniert immer unabhängig vom Raum. Ich kann aber vor allem die kleinen Konzerte am Heiligabend oder nachts empfehlen, zum Beispiel in der Friedenskirche, Sacrow, Pfingstkirche, Erlöserkirche. Hier wird die Musik ganz bewusst an ihren ursprünglichen Ort geholt, weg vom Weihnachtsmarkt. Oder man geht mal zu den Katholiken, die können die Feste noch in großer liturgischer Form feiern. Man braucht manchmal eine feierliche Zeremonie, die ganz bewusst von der Gegenwart losgelöst ist. Mit der Entwicklung der evangelischen Kirche hin zum Genre des Neuen Geistlichen Lieds, also moderne Formen, womöglich mit Band, kann ich nichts anfangen.

Gibt es so viel Neues, weil wir befürchten, dass das alte Liedgut uns nicht mehr begeistern kann? Zum Beispiel einen 13-Jährigen?

Aber es kann ja begeistern, es hängt halt davon ab, wie es zu Hause gelebt und gepflegt wird. Ich bin in einem großen, frommen Elternhaus aufgewachsen, wir waren sechs Geschwister und Weihnachten war ein Wahnsinnsfest. Vater kam abends von den Dörfern zurück, wo er gepredigt hatte und dann wurden auch bei uns die Kerzen am Baum angezündet und wir haben gesungen „Ihr Kinderlein kommet“. Aber das Licht ging nicht schon vier Wochen vorher an. Und es war eben nicht elektrisch.

Sind wir verloren?

Ach was, die Menschen kriegen das schon wieder hin. Das wird alles wiederkommen, auch dass die Haltung das Bestimmende ist. Die Welt ist ja nach wie vor erlösungsbedürftig und Gott ist noch nicht tot. „Als die Welt verloren, Christus ist geboren", ein polnisches Lied aus dem 19. Jahrhundert, gibt die Antwort – wenn die Hauptsache die Hauptsache bleibt.

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