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Kultur: „Vorwärts zum Campus, aber nicht vergessen“

Die Fachhochschule war für Hanne Seitz ein Unort des Lernens. Trotzdem würdigt sie ihn mit einem Kehraus

Frau Seitz, wie haben Sie als Expertin für Kunst im öffentlichen Raum die Besetzung der Fachhochschule am Alten Markt wahrgenommen? War das ein performativer Akt des Widerstands?

Ich war in der Fachhochschule an dem Tag. Ich habe das also sehr unmittelbar mitbekommen, wie auf den Tisch gestiegen und mit einem performativen Akt erklärt wurde: Dieses Haus ist besetzt. Ich komme aus der performativen Kunst und wusste: Das ist eine Statusveränderung des Hauses. Das erste, was mir im Zusammenhang mit der Planung des Kehraus einfiel: Der Kehraus findet gerade statt – oder er hat dann an dem Abend stattgefunden, als das Haus geräumt wurde, denn seit diesem Zeitpunkt war es nicht mehr öffentlich zugänglich. Wie alle meine Kolleginnen und Kollegen habe ich unter großen Sicherheitsvorkehrungen mein Büro geräumt. Das war für mich persönlich, die ich 23 Jahre an diesem Haus gearbeitet hatte, schon nicht so schön. Und ich hätte es gerne gesehen, wenn wir die fast 4000 Quadratmeter des Hauses noch einmal in seinem leeren Zustand zum Abschied hätten bespielen können.

War die Besetzung ein künstlerischer Akt?

Das kann ich so nicht sagen. Dazu war es zu ernst. Es hatte Folgen. Gut, man wünscht sich natürlich, dass die Künste, gerade die interventionistischen Künste, Wirkung zeigen. Diese Aktion hatte gravierende Folgen, aber es kam uns ein Stück weit in die Quere, was die Planung eines würdevollen Abschieds des Hauses betrifft. Das Haus wurde vorzeitig dem Sanierungsträger übergeben, und wir als Fachhochschule haben keinen Zugang mehr.

Der Sanierungsträger hätte Ihnen ja dennoch noch einmal Zugriff auf das leere Gebäude gestatten können.

Es gab intensive Gespräche. Zu einem Zeitpunkt im Frühjahr stand der Kehraus schon einmal auf der Kippe. Wir haben lange verhandelt, damit die Fachhochschule am 21. Oktober noch einmal öffentlich zugänglich ist. Geplant war, dass das Gebäude am 28. Oktober übergeben wird, und wir davor darüber verfügen können. Das war nach der Besetzung nicht mehr zu halten, weil verständlicherweise die Befürchtung im Raum stand, dass das Haus erneut besetzt werden würde.

Den Kehraus, den Sie als künstlerische Leiterin fast zwei Jahre lang geplant hatten, mussten Sie also komplett umdenken. Sie wollten in das Gebäude hinein, jetzt umtanzen Sie es gewissermaßen.

Ich war zunächst sehr skeptisch. Ich dachte, man kann das nicht einfach an einen anderen Ort übertragen. Die meisten Projekte waren auf konkrete Räume bezogen, auf Seminarräume, die Mensa, die Toiletten. ich war knapp davor, das ganze Projekt abzusagen, aber die gesamte Planungsgruppe, auch Hermann Voesgen, hat gepusht und gesagt: Wir lassen uns durch diesen Konflikt nicht zerreiben.

Was ist jetzt geplant?

Wir haben neu nachgedacht und irgendwann gesagt: Gut, dann machen wir es im öffentlichen Raum und werden dort als Fachhochschule dann noch einmal sichtbar. Das Potsdam Museum unterstützt uns, das Café Central, und das Hotel Mercure, das uns seine 17. Etage zur Verfügung stellt. So haben wir gewissermaßen auch Rückzugsorte, falls das Wetter nicht mitmacht. Außerdem setzen wir drei Trucks ein, bewegliche Behausungen: für unseren Kiosk, für Videos und für einen Zeitstrahl zum Haus, der 1972 im Jahr der Grundsteinlegung anfängt. Dort sollen auch Besucherinnen und Besucher Daten und Erinnerungen eintragen. Das Haus existiert ja vierzig Jahre, und unsere Gäste sollen uns helfen, den Zeitstrahl zu füllen.

Ist Kehraus auch ein Fest der langsam verschwindenden Vielfalt in der Potsdamer Innenstadt, die die DDR-Moderne einschließt?

Ich selbst habe das Kehraus-Projekt nie als Fest verstanden. Wir feiern später auf dem Campus, nachdem wir um 22 Uhr mit der Straßenbahn dorthin gefahren sind. Dass die Hochschule auf dem Campus nun endlich vereint ist, das ist ein Grund zum Feiern, ja. Der Kehraus war von mir als Würdigung und als Abschied vom Alten Markt gedacht, ohne auf diesen Konflikt um die Stadtmitte einzugehen. Wobei ich ganz persönlich schon auch denke, dass die DDR-Moderne nicht gänzlich verschwinden sollte. Vor Jahren, nachdem das Haus des Reisens abgerissen worden war, habe ich mit Hermann Voesgen die Veranstaltung „Hinter der Fassade“ durchgeführt, um Erinnerungen an die Geschichten hinter den Häusern zu bewahren. Da sind schöne Ideen entstanden, die dann leider nicht umgesetzt wurden. Unser Anliegen war, Erinnerung lebendig zu halten. Und wenn die Orte nicht mehr da sind, ist zu überlegen, wie dies trotzdem gelingen kann. Wir hatten da zum Beispiel mit QR-Codes arbeiten wollen, um etwa am Neuen Lustgarten daran zu erinnern, dass hier früher das Ernst Thälmann Stadion war. Um das kulturelle Gedächtnis wach zu halten braucht man Orte, an die sich Erinnerung bindet – deswegen zum Beispiel auch Denkmäler.

Und die Fachhochschule ist so ein Ort?

Die Fachhochschule hätte mit neuem Anstrich ein interessantes Gegenüber für die anderen Bauten am Alten Markt sein können, aber es wurde anders entschieden. Das muss man akzeptieren, wir leben in einer Demokratie. Die jungen Leute, die heute gegen den Abriss sind, können diese Vorgänge schwer nachvollziehen. Vielleicht hat auch die Fachhochschule diese Prozesse zu wenig kommuniziert. Die Diskussion um Potsdams Mitte ist ja 27 Jahre alt. Viele der jungen Leute sind nicht mal 27. Ihnen wird nun bewusst, dass gravierende Veränderungen bevorstehen und haben das Gefühl, nicht beteiligt worden zu sein. Ich kann das nachvollziehen, aber es ist, wie es ist.

Wenn der Kehraus kein Fest ist, was dann?

Eine Würdigung des Hauses, ein Gelegenheit für die, die hier gearbeitet und studiert haben, Abschied zu nehmen. Ein Ort der Versammlung, nun nicht mehr im Gebäude, sondern drumherum. So etwas wird am Alten Markt künftig vielleicht fehlen. Diese Freiräume wird es so nicht mehr geben. Ich habe mich viel mit Übergängen beschäftigt, und Übergänge müssen markiert werden. Der Kehraus ist auch ein Ritual.

Was für ein Übergang ist das genau?

Es ist der Ortswechsel der Hochschule, die 25 Jahre am Alten Markt war. Ich kam 1995 nach Potsdam, damals sagte man mir, der Umzug würde in ein paar Jahren stattfinden. Ich warte quasi seit ich an der FH bin auf diesen Umzug. Jetzt kommt er, und durch die Besetzung kam er nun wie im Schleudersitz daher. Und ich selbst komme gar nicht mehr an diesen neuen Ort, weil ich pensioniert werde.

Was bedeutet der Begriff des Kehraus?

Der Begriff hat bei einigen Verwirrung gestiftet, vor allem bei denen, die schon zu DDR-Zeiten hier gearbeitet haben, unser Hausmeister zum Beispiel. Für sie ist dieser Abschied mit Trauer verbunden. Für mich vielleicht insofern ein Freudentanz, weil nochmal alle zusammenkommen, auch die ehemaligen Kolleginnen und Kollegen. Und natürlich steckt in dem Wort auch das Kehren. Ein Einsammeln und Sichten von Spuren, um sie dann zu verabschieden. Deswegen wird Samstagabend der Platz dann auch mit lautem Getöse leergefegt.

Sie selbst sind auch Performerin. Sie tragen zum Kehraus einen Film bei, in dem ein Ei die Hauptrolle spielt.

Das Ei ist ein lebendiges Artefakt von der Künstlergruppe Club Real, mit der ich viel zusammengearbeitet habe. Mit dem Ei habe ich eine letzte Begehung des Hauses nach dem Auszug machen dürfen. Es wird auch am Samstag auf dem Alten Markt unterwegs sein, auf der Suche nach einem guten Ort zum Schlüpfen. Der Film wird im Kehraus-Kiosk für einen kleinen Obolus zu erwerben sein. Hier kann man übrigens auch einen Bastelbogen vom Gebäude bekommen, eine Brosche mit dem Sternenornament und viele Überraschungen mehr.

Sie haben die FH mal einen „Unort des Lernens“ genannt. Jetzt scheint bei Ihnen doch Trauer über den Abschied durch.

Ich glaube, es geht vielen so, auch meinen Kolleginnen und Kollegen, vor allem denen, die schon lange da sind. Zu sehen, wie dieses Gebäude immer mehr verkommt. Wenn es regnete, standen Eimer in den Gängen, um das Wasser aufzufangen. Einmal fiel mitten im Seminar eine Lampe von der Decke. Es war eine Schande, dass Studentinnen und Studenten an einem solchen Ort lernen mussten. Aber deswegen hasst man ihn nicht, sondern ist eher traurig. Und es lohnt, noch einmal darüber nachzudenken, dass hier am Alten Markt zu DDR-Zeiten Kultur, Bildung, Freizeit eingezogen sind und deswegen schon einmal ein Abriss stattfand, die Reste des damaligen Schlosses. Es gab das Institut für Lehrerbildung, in das dann die FH einzog, eine Bibliothek, ein Kulturhaus, ein Theater, zugegeben ein Koloss von Architektur, dem niemand nachweint. Aber die Idee, all dies in die Mitte der Stadt zu bringen, ist bedenkenswert.

Es war ein sozial durchmischter Ort.

Ein Ort für alle. Aber es sollte nicht verklärt und auch nicht vergessen werden, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Bis vor kurzem war der Alte Markt auch noch ein Ort für alle. Hier fuhren Jugendliche Skater und Fahrrad-Akrobaten von der Rampe der FH praktisch in den Landtag hinein. Es gibt die geflüchteten Menschen im Staudenhof. Eine soziale Mischung – nicht nur Museumsbesucher, Touristen oder Politiker. Die Durchmischung wird fehlen. Am Alten Markt werden sich in Zukunft nicht mehr alle wohlfühlen oder ihn als „ihren“ Ort begreifen.

Gibt es das überhaupt: Orte, an denen sich alle wohlfühlen?

Schwierig. Ich kann keinen benennen. Es gibt aber sicher Orte, die durch die Offenheit ihrer Infrastruktur eine Vielfalt willkommen heißen. Zu viel von dem einen verändert einen Ort. Sie stellen aber schwierige Fragen!

Sie treiben Potsdam um, und der Kehraus scheint sie auf den Punkt zu bringen.

Tatsächlich wird Hermann Voesgen zum Kehraus eine Diskussion moderieren, die dieses Thema aufgreift. Zusammen mit der Kunsthistorikerin und Grünen-Stadtverordneten Saskia Hüneke, dem Gründungsrektor der Fachhochschule, Helmut Knüppel, und André Tomczak – von der Initiative Potsdamer Mitte neu denken – sind Besucherinnen und Besucher eingeladen, mitzudiskutieren.

Die Diskussion trägt den einprägsamen Titel „Vorwärts und nicht vergessen“, nach Eislers Solidaritätslied.

Ja, das ist auch das Motto von Kehraus. Vorwärts zum Campus. Aber nicht vergessen, dass die FH 25 Jahre hier am Alten Markt war und wir am letzten Tag des Jubiläumsjahres zeigen, was die Hochschule an Wissensschätzen hat. Über 30 Hochschulakteure, Studentinnen und Studenten, Kolleginnen und Kollegen und einige der Hochschule verbundene Künstler beteiligen sich am Markt der Erinnerungen und Perspektiven und lassen die Öffentlichkeit daran teilhaben. Der Kehraus wird ein spannendes, erinnerungswürdiges Ereignis. Zieht euch warm an dafür!

Die Fragen stellte Lena Schneider

Hanne Seitz ist seit 1994 Professorin für Theorie und Praxis ästhetischer Bildung an der Fachhochschule Potsdam. Sie hat den Kehraus als künstlerische Leiterin konzipiert.

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