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Schreibtisch und Webstuhl. Die Potsdamerin Kerstin Raatz fühlt sich an beiden wohl.

©  Manfred Thomas

Von Undine Zimmer: Worte und Garn

Die Potsdamer Autorin Kerstin Raatz spinnt märchenhafte Geschichten – Erzählen ist ihre Leidenschaft

Rumpelstilzchen hat auf einer Spindel eine Kammer voll Flachs zu Gold gesponnen. Drei Nächte lang hat er so der Müllerstochter das Leben gerettet und sie zur Braut des Königs gemacht. Im Märchen ist ja alles möglich mag man denken. „Aber“, sagt Kerstin Raatz, „das ist gar nicht so unrealistisch. Denn ein ganz feiner gleichmäßiger Faden, das so genannte feine Linnen, war früher Gold wert.“

Einen Faden spinnen oder ihn verlieren, etwas durchhecheln, sich verhaspeln, etwas runter spulen. Das sind Wendungen, die am Webstuhl entstanden sind, aber auch synonym fürs Erzählen gebraucht werden. Kerstin Raatz kann sich für diese Wortspiele begeistern. „Schon im lateinischen Begriff Textum für Text steckt die Bedeutung Gewebe.“ Aber es ist nicht nur das Textgewebe, das sie als studierte Germanistin interessiert. Auch wie aus Rohwolle auf der Spindel ein Faden wird, hat sie schon immer fasziniert.

In vielen Märchen wird eifrig gesponnen. Redliche Mädchen erkennt man an ihrem feinen Fädchen. In vielen Märchen werden auch Geschichten erzählt, meisterlich versponnen aus den Fäden der Fantasie. Die Potsdamerin Kerstin Raatz kann beides.

Kerstin Raatz, 29 Jahre, trägt die braunen Haare zu einem langen Pferdeschwanz zusammengefasst. Sie hat etwas Natürliches, aber Pragmatisches an sich, wie sie einem während des Gesprächs im Café gegenüber sitzt. Anfangs noch zurückhaltend, erzählt sie dann immer offener von ihren beiden Leidenschaften. Eine sentimentale Dichternatur scheint sie jedenfalls nicht zu sein. Spinnen ist für sie ein Handwerk, das sie begeistert. Das Schreiben auch.

Zum Abitur hat sie mit einer Freundin ihren ersten Gedichtband herausgegeben. Später hat sie Kurzgeschichten über die Liebe geschrieben und Erzählungen über ihren Aufenthalt in Irland. Während ihres Studiums in Potsdam hat sie viele Jahre in der studentischen Zeitschrift „schreib“ veröffentlicht und bei jeder Gelegenheit ihre Texte vor Publikum getestet.

Denn Erzählen bedeutet für Kerstin Raatz auch Zusammensein. Da sind die Erinnerungen an lange Abende im lokalen Pub während ihres Auslandssemesters in Limerick, wo alte keltische und neuere traditionelle Lieder enthusiastisch in der Gruppe gesungen, Märchen und Sagen erzählt wurden. „Jeder kennt dort eine Geschichte, eine Sage oder ein Lied auswendig. In Deutschland kann sich kaum einer an ein paar Strophen erinnern.“

Kerstin Raatz wollte bei diesen besonderen Treffen, für die das Irische das Wort „céilidh“ reserviert hat, nicht nur Zuhörerin bleiben. Bis sie einige irische Lieder auswendig gelernt hatte, trug sie „Dad du men leevsten büst“ auf Prignitzer Platt vor. „Das Lied kannte ich noch von meinen Großeltern“, sagt Raatz.

Jetzt, wo sie wieder zurück in Potsdam ist und kein Pub weit und breit, wo singt sie da die gelernten, irischen Folklieder?

„Die singe ich beim Kartoffeln schälen“, sagt Kerstin Raatz und lacht.

An Märchen und alten Sagen fasziniert Kerstin Raatz, dass sie die unerklärlichen und unfassbaren Dinge im Leben beschreibbar machen. Krankheiten, Unglück, Ängste, aber auch Träume und Banales. Auch in ihrem Studium hat sich Kerstin Raatz eingehend mit der Musik, Erzähltradition, den Elfen, Festen und dem Volksglauben der so genannten „Irish folklore“ beschäftigt. Oftmals stecken in den Sagen Anspielungen auf ganz konkrete alltägliche Dinge und Weisheiten, die durch die Erzählungen weiter getragen werden. Wie der Faden, der zu Gold gesponnen wird in der Geschichte mit Rumpelstilzchen.

Kerstin Raatz verbindet auch in ihren eigenen Geschichten banale alltägliche Erfahrungen mit Märchenhaftem. „Ich habe in Irland zum Beispiel entdeckt, dass ich doch deutscher bin als ich dachte. Wenn man aus dem Ausland zurückkommt, nimmt man Dinge, die man vorher für selbstverständlich hielt, plötzlich anders wahr.“ Mit dieser Fremdperspektive auf das Hier und Jetzt spielt sie auch in ihrem Roman „31 Briefe an den Erwählten meines Herzens“.

Wer die Lesungen von Kerstin Raatz beispielsweise im Lesesalon von Heike Isenmann regelmäßig besucht hat, konnte die Entstehung des noch unveröffentlichten Romans in den vergangenen zwei Jahren mitverfolgen. „Viele wollten nach diesen Lesungen wissen, wie es weiter geht“, sagt Kerstin Raatz. „Aber ich hatte die nächsten Kapitel noch gar nicht geschrieben und wusste es selber nicht.“

Die Verfasserin dieser 31 Briefe in dem Roman ist eine Sirene. „Was die meisten nicht wissen, Sirenen wurden in der griechischen Mythologie als Vogelfrauen beschrieben. Das bekannteste Beispiel dafür ist Homers „Odyssee“. Erst später sind Sirenen in Märchen und Mythen zu Wasserwesen, kleinen Meerjungfrauen, Melusinen, Nixen und Undinen geworden.“

Kerstin Raatz kennt sich aus. Sie hat ihre Abschlussarbeit über das literarische Motiv der Wasserfrau geschrieben. Ihre Sirene stattet sie aber nicht mit Schuppen, sondern mit Federn aus. Irgendwo am Körper. Wo genau weiß die Autorin selber nicht. „Das ist das Schöne an Literatur“, lächelt sie, „dass man nicht alle Details ausführen muss, einiges auch dem Leser überlassen kann.“

Die Sirene in Kerstin Raatz’ Roman hat ihren Felsen im Mittelmeer längst verlassen und sich in einen jungen Mann aus unserer Zeit verliebt. Keine einfache Beziehung, sagt Raatz, die in Irland ihre eigenen Erfahrungen mit der Liebe zu jemandem aus einem anderen Kulturkreis gemacht hat. „Zuerst schreibt man alle Eigenschaften dem Charakter der Person zu. Nach und nach erkennt man aber, dass auch Kultur und Sprache eine wichtige Rolle spielen.“ Ähnlich ergeht es auch ihrer Sirene. So sehr diese sich auch bemüht, alles richtig zu machen, sie versteht ihren Geliebten einfach nicht. Genauso hartnäckig aber, wie Kerstin Raatz die irischen Folkslieder auswendig gelernt hat, beschließt die Sirene, wenigstens die Welt ihres Geliebten kennenzulernen. Davon handeln die 31 Briefe.

In ihrem Alltag gelingt es Kerstin Raatz immer wieder, ihre beiden Leidenschaften zu verbinden. Sie arbeitet an verschiedenen kulturellen Projekten und plant ihre nächsten Lesungen. Aber auch auf dem Böhmischen Weberfest in Babelsberg konnte man Kerstin Raatz schon hinter einem Webstuhl entdecken.

Wie kam es eigentlich zu dieser Leidenschaft für das Spinnen?

Erst spät hat Kerstin Raatz Kurse am Spinnrad genommen. Das Spinnen mit der Handspindel, das sie am meisten reizte, konnte ihr jedoch niemand zeigen. „Das habe ich mir dann selber beigebracht. Mit Youtube-Videos.“

In diesem Sommer hat sie in der Schreibwerkstatt für Kinder im Kunstsalon 23 ausgeholfen. Dafür hat sich Kerstin Raatz auch ein paar Texte über Potsdam ausgedacht. „Die Kinder wissen ja schon, dass ich spinne“, sagt Kerstin Raatz. Das klingt fast ein bisschen stolz. Wenn sie mit ihrer Handspindel die Aufmerksamkeit der Kinder an sich gezogen hat, fängt sie an zu erzählen. Über das Teehaus, das Schloss Sanssouci und den alten Fritz, die Potsdamer Fischerfrauen am Stadtkanal, die zwei Nixen von Luben und die Seidenspinner von Potsdam. Sie weiß, dass ihre Geschichten bei den kleinen Zuhörern gut ankommen. Denn oft genug muss sie diese zweimal vorlesen.

Die nächste Fortsetzung aus „31 Briefe an den Erwählten meines Herzens“ liest Kerstin Raatz am Sonntag, 19. September, um 14 Uhr in der Kirche in Petzow

, ine Zimmer

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