zum Hauptinhalt

Kultur: Von Himmel und Hölle

Bilanz der Potsdamer Tanztage: Im Zeichen der Frau, politisch, erfolgreich

Mit einem lautstarken Höllenspektakel im „Garten der Lüste“ begannen sie, mit einem friedvoll-poetischen Himmel („Ciel“) endeten sie – die 27. Potsdamer Tanztage. Zwischen diesen zwei diametralen Räumen hatten sie jede Menge pulsierenden modernen Tanz und ebensolches Leben zu bieten.

Fast 9000 Besucher zogen die Tanztage in diesem Jahr an, noch einmal mehr als im Vorjahr, als 7500 Menschen die Aufführungen sahen. 30 Workshops mit renommierten internationalen Gastdozenten fanden in den Studios in der Schiffbauergasse statt, insgesamt 26 Aufführungen in der fabrik, im Hans Otto Theater und im T-Werk. Erstmals war auch das Drewitzer Stadtteilzentrum Oskar ein Aufführungsort.

Und noch eine Premiere gab es: Tanztage goes Brandenburg. Vom 9. bis 15. Mai – also vor der Potsdamer Eröffnung – waren Tänzer auf öffentlichen Plätzen in Neuruppin, Kyritz, Cottbus, Premnitz, Waldrehna und Guben zu Gast. An Orten also, wo moderner Tanz bisher ein Schattendasein fristet. Mit sieben mehrstündigen Open-Air-Performances von „Habiter sa Mémoire“ lockten sie die ersten Neugierigen an. Die Potsdamer Fotografin Kathrin Ollroge hat die Performances festgehalten; die Bilder und Publikumsreaktionen waren in einer Ausstellung im Kunstraum zu sehen. Aber auch in Potsdam wurden neue Orte wie die Gedenkstätte Lindenstraße, der Alte Markt und ein Parkdeck in der Schiffbauergasse als Tanz-Locations erschlossen.

Neben diesem verstärkten lokalen Bezug lag der Fokus des 27. Festivals auf einem Land – auch dies ein Novum. Kanada, das in diesem Jahr das 150. Jubiläum seiner Staatsgründung feiert, präsentierte fünf sehr unterschiedliche Choreografen und ihre originären Handschriften: Gleich zu Beginn der Tanztage den überbordend effektvollen „Garten der Lüste“ von Marie Chouinard, danach folgte die expressive Beziehungsstudie „This duet that we’ve already done“ von Frédérick Gravel und die kongeniale Verschmelzung von Hip-Hop und Ballett der Rubberbanddance Group. Alle kamen aus Montreal. Dazu stießen wieder viele, in Potsdam bisher meist unbekannte Künstler aus Frankreich, der Schweiz und Spanien. Die Company „Time takes time time takes“ aus Beirut und Barcelona begeisterte am ersten Wochenende mit ihrem puren Tanz und den fließenden Verbindungen der Figuren.

Zum ersten Mal im Bühnenprogramm vertreten war auch eine Company aus Indonesien. Die fünf jungen und sehr präsenten Tänzerinnen der Ekosdance Company zeigten, was es bedeutet, sich als Frau mit der kriegerisch-männlichen Tradition des Inselstaates auseinanderzusetzen. Mit geballten Fäusten und ernsthaften Gesichtern tanzten sie die Kriegstänze Cakalele und Soya Soya, die eigentlich nur Männern vorbehalten sind. Wie sehr sie dabei bei sich ankamen, schließlich in sich ruhten und sowohl als Einzelne als auch als Gruppe reiften, wurde einem schmerzhaft bewusst, als sie am Ende der fremd anmutenden und dann doch sehr vertrauten Performance (wieder) in die (traditionellen) Frauenrollen – hier: vereinzelt redend – zurückfielen.

Immer wieder stark auf diesem Festival: Die Auseinandersetzung von und mit Frauen und ihren jetzigen und traditionellen Rollen. Im Festivalprolog tanzte eine Frau (Caroline Laurin-Beaucage) vier Stunden lang allein im öffentlichen Raum, stand völlig im Mittelpunkt des Interesses. Eine wunderbar präsente Frau ist auch die Schweizerin Yasmine Hugonnet, die mit ihrem Körper virtuos wie auf einem Instrument spielte. Für Europa und die westliche Welt (fast) Normalität. Doch die Performance der indigenen, kanadischen Frauen zeigte eine andere, zudem sehr gewaltvolle Realität. Sie rückte ins Bewusstsein, wie dünn der emanzipatorische Fortschritt auch hierzulande ist, wo Gewalt gegen Frauen zwar gesetzlich verboten, doch nach wie vor an der Tagesordnung ist. Wie stark tradierte Geschlechterbeziehungen durch die Veränderungen der Rollenbilder ins Wanken geraten (können), war auch im nahbar-unnahbaren Duett von Brianna Lombardo und Frédérick Gravel zu erleben.

2017 wird auch als ein Festival der ungewöhnlich starken Kontraste in Erinnerung bleiben. Nach Himmel und Hölle, auf Krieg und Tod, folgten Alltag, Schwerkraft, Spiel und immer wieder Stille. Das wunderbar artistische „Gravity“ der beiden Israelis Ofir Yudilevitch und Asher Ben Shalom zeichnete in nur 30 Minuten ungemein spielerisch das ganze menschliche Erdendasein nach. Springend, fallend, fliegend – immer im Kampf gegen die Schwerkraft und (zu oft) auch gegeneinander – ist es nur mit Kraft, Ausdauer, Solidarität und Humor zu ertragen. Genauso spielerische Ansätze und tiefe Einsichten gab es im „Stoiker-Bad“, das Kinder und Erwachsene im Kunstraum nutzten.

Einen der stärksten und nachhaltigsten Eindrücke hinterließ der zweite Festivalabend, an dem Ali Charour aus Beirut den dritten Teil seiner Trauerrituale aufführte. Gemeinsam mit der Sängerin Hala Omran rebellierte er gegen Gott und den Tod, der in Syrien allgegenwärtig ist. Und bei dem Männer (immer noch) kämpfen müssen und nicht trauern dürfen. Wie gut, dass die Macher der Tanztage immer wieder einen aktuellen und politischen Bezug zulassen und sich gerade dieses Festival nicht an „reiner“ Kunst abarbeitet. Es ist und bleibt nah- und streitbar und das ist gut so!

Und der „Himmel“? Befand sich auf einer grünen Wiese, im Sonnenschein, dazu Vogelgezwitscher und entspannte Menschen. Ein Mann band mit mehreren Seilen schlanke Baumstämme zu einem übermannshohen Dreibein zusammen. Einer sehr zweckmäßigen Choreografie folgend, fügte der Katalane Jordi Galí an dessen Spitze zwei weitere, sich noch mal verjüngende Stämme hinzu. Es entstand in Echtzeit ein gen Himmel strebendes, schwebendes Etwas, das vor dem gigantischen Turm der Nikolaikirche wie ein Zeichen aus einer anderen, vergessenen Welt wirkte und doch so grandios von der Schöpferkraft und Sehnsucht des (einzelnen) Menschen kündete. Wunderbar archaisch und poetisch zugleich!

Astrid Priebs-Tröger

Zur Startseite