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Von Heidi Jäger: Verwehte Spuren

Das Lesebuch „HinterNational“ erinnert an den vergessenen Dichter Johannes Urzidil

Sein „R“ lässt er rollen wie glitzernde Kieselsteine in einem breit fließenden glucksenden Singsang-Strom. Johannes Urzidil dehnt die Silben wie Kaugummi, um sie im nächsten Moment zurückschnellen zu lassen. Temperamentvoll, launig und pointiert bringt er seine Texte zu Gehör, den böhmischen Akzent nie vernachlässigend. Doch wer ist dieser Autor mit der Rhetorik eines kultivierten Österreichers und einer fast schauspielerischen Artikulation, die den Zuhörer mitreißt und für Heiterkeit sorgt?

Das Deutsche Kulturforum östliches Europa sorgt für Aufklärung über diesen jüngsten Dichter des berühmten „Prager Kreises“ um Franz Kafka, Max Brod und Franz Werfel, der sich als Kind einer deutsch-tschechisch-jüdischen Familie als „hinternational“ fühlte. Das am Neuen Markt in Potsdam ansässige Kulturforum hat in seiner Reihe „Vergessene deutschsprachige Autoren östliches Europa“ jetzt das Lesebuch „HinterNational“ veröffentlicht, das Johannes Urzidil mit zupackendem Schwung und akribischer Detailfreude seines Schattendaseins entreißt. Den Autoren Klaus Johann und Vera Schneider gelang es, das rastlose, ins Exil getriebene Leben Urzidils, der 1896 in Prag geboren wurde, 1941 in die USA emigrierte und 1970 in Rom starb, nachzuzeichnen und dabei verschiedene Sichten zusammenzuführen. Es kommen Kritiker, Literaturwissenschaftler und Schriftstellerkollegen zu Wort, die die Bedeutung des fast vergessenen deutschböhmischen Autors herausstreichen, vor allem aber das Podium Johannes Urzidil selbst überlassen. Auch durch die beigefügte CD mit einem Audiofeature seltener Tondokumente.

„Es spricht für den Dichter Johann Urzidil, daß man seine Geschichten an einer beliebigen Stelle aufschlagen kann und sofort mit allen Sinnen, einschließlich der Geschmacksnerven, in Bann gezogen wird“, ist in dem Almanach zu lesen. Und fürwahr, man liest sich fest, wenn er in „Väterliches aus Prag“ sein in grellen Farben getauchtes Familienalbum aufblättert. „Ich schätzte meines Vaters tolle und gewalttätige Vitalität, von der ich wohl selbst genügend geerbt habe, um oft genug in Schwierigkeiten, aber niemals in schläfrige spießbürgerliche Bahnen zu geraten.“ Von seiner Mutter kann er indes nur berichten: „Sie starb in meinem vierten Lebensjahr, und mein Vorstellungsbild von ihr ist nur mit ihrem langen Siechtum und ihrer Todesstunde verbunden.“ An seine ungeliebte „Stief“ sind die Erinnerungen weitaus üppiger und greller. „Feindschaft stand Wacht in allen Träumen, Denken und Tun. Ging mit auf den Schulweg, hockte im Klassenzimmer und nebenan auf der Bank, lief zur Wette mit auf dem Bergl, wenn man nachmittags mit anderen Jungen spielte, schwelte über den Nachmahltisch, raschelte im Bettpolster.“ Er streute dieser Stiefmutter Salz in den Kaffee, Brausepulver ins Nachtgeschirr und es setzte Ohrfeigen des Herrn Papa für solcherart Scharmützel, auch wenn die Eheleute selbst ständig auf Kriegsfuß standen. Vor allem sind es die kleinen Dinge, die Freude und Leiden der Kindheit, die Urzidils Beschreibungen so sinnlich werden lassen. Obwohl stark autobiografisch geprägt, gibt es aber immer auch Verfremdungen und fein nuancierte Zuspitzungen. „Die Grundsubstanz dieser Geschichten ist Humor und sanfte Ironie, entfaltet in einem Stil, als hätte Thomas Mann die Erzählungen Kafkas geschrieben“, urteilt Thomas Otto Brandt.

Als junger Mann schrieb Urzidil noch ganz expressionistisch, um sich Anfang der 20er Jahre zum Klassizismus aufzumachen. Sein Herz entflammte für Goethe, Stifter, Hollar und Kafka, mit denen er literarisch anbändelte. Und er schrieb für die verschiedensten deutschsprachigen Zeitungen. Außerdem arbeitete er für die deutsche Gesandtschaft und wurde genötigt, 1930 die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Nach der Machtergreifung der Nazis wird Urzidil als sogenannter Halbjude, verheiratet mit einer Jüdin, und aufgrund seiner politischen Überzeugungen aus dem diplomatischen Dienst des Deutschen Reiches entlassen. Er reiste mit seiner Frau Gertrude, Tochter eines Rabbiners, 1941 von Liverpool aus nach Amerika: Sie waren die einzige Passagiere an Bord dieses letzten Linienschiffs, das England noch verlassen konnte – und zugleich das Gold der Bank von England in die USA in Sicherheit brachte.

„Schwerlich kann jemand die Tragik des Exils tiefer empfinden, schwerlich jemand einsamer sein als der Dichter innerhalb eines fremden Sprachraums. Denn es ist ihm nicht gegeben, die fremde Sprache mitzuschaffen.“ Urzidil verlor seine böhmischen Heimatwälder und lebte in der Fremde. Seine Heimat wurde ihm das, was er schrieb. Da das Schreiben allein nicht zum Lebensunterhalt reichte, begann seine Frau als Babysitterin zu arbeiten und er selbst bastelte aus Lederabfällen Kästchen, Becher oder Dosen. Das linderte die Not, machte dem Literaten aber auch Vergnügen. 1946 wurden die Urzidils US-amerikanische Staatsbürger. Doch der Schriftsteller ließ weiter seinen Prager Geist walten. Seine Lieblingsanektdote, die er gern mit einem tiefen Seufzer unter den Emigranten, die schon amerikanische Staatsbürger waren, erzählte, war kurz und knapp: „Wie schade, dass wir Europäer uns Amerikaner nicht verstehen“. Trotz des wachsenden Erfolgs und zahlreicher Literaturpreise in den 50er und 60er Jahren hielt er an seiner bescheidenen Lebensweise fest. Und er schrieb immer wieder über Prag, nicht nur über das goldene mit den nostalgischen Türmchen, sondern auch über das dunkle. Doch er betrat diese Stadt nie wieder. „Es wäre eine zu große Enttäuschung, nach dem unwiederbringlich Verlorenen zu suchen.“

1956 erschien Johannes Urzidils Buch „Die verlorene Geliebte“, die bis heute neben „Prager Triptychon“ sein meistgelesenes Werk ist. Jedenfalls in Frankreich, Spanien und natürlich in seiner böhmischen Heimat, wo er nicht, wie im deutschsprachigen Raum, in Vergessenheit geriet.

In einem Gedicht Urzidils heißt es vorausahnend: „Ich gehe durch den alten Wald. Die Äste ragen starr und kalt. Ich gehe. Meine Spur wird bald zerlöst, zerweht von Sturmgewalt.“

Mit dem vorliegenden Lesebuch fügen sich zerwehte Spuren wieder bildkräftig zusammen und lassen eine vergessene Fabulierkunst im neuen Licht erstrahlen. Vielleicht kehrt dieser Odysseus posthum und mit begeisterter Gefolgschaft in seinen Sprachraum zurück, um Leser und Zuhörer ins Schlepptau seiner gestalterischen Lust zu nehmen.

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