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Von Heidi Jäger: Eine, die auszog, das Leben zu lernen

Donnerstag hat „Die Schneekönigin“ am Hans Otto Theater Premiere / Regie führt Marita Erxleben

Sie ist eine Traumfängerin. Immer wieder gelingt es Marita Erxleben, ihre Visionen mit beiden Händen zu fassen. So wie sie als Sechsjährige ihre ersten Pirouetten auf einem Steinrondell in der Alexandrowka drehte und sich bereits im Rampenlicht der Bühne sah, tanzte sie sich auch später konsequent an ihre heimlichen Wünsche heran. Heute crosst sie mit ihren Choreografien zwischen Klassik und Hip-Hop, setzt 150 Eleven zeitgleich in Szene, und kann bis nach Mallorca reisen, um in dem Film „Liebe und andere Baustellen“ mit Christine Neubauer ein Männerstrip formvollendet vor die Kamera zu bringen. „Und jetzt darf ich sogar Regie führen“, schwärmt die Choreografin und die dunklen Augen funkeln begeistert unter dem frechen Pony.

Die 45-Jährige erzählt mit dem ganzen Körper und greift dabei immer wieder auch zu dem kleinen Büchlein von Hans Christian Andersen, dessen Blätter sich bereits herauslösen. Man spürt die Hingabe, mit der sich Marita Erxleben ihrem Projekt verschreibt. Die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus, jedem Detail misst sie Bedeutung bei. Doch die Regisseurin ist keine Schwätzerin, sondern jemand, der begreifen will, warum jemand handelt, wie er handelt. Im Moment taucht sie dabei ganz in das Reich der Schneekönigin ein, das sie als Weihnachtsmärchen für das Hans Otto Theater inszeniert und am Donnerstag zur Premiere bringt. „Eine Geschichte, die jeder zu kennen meint.“

Doch Marita Erxleben, die als Kind dieses Kunstmärchen in seiner Komplexität nie ganz verstand, fragte die verschiedensten Leute, an welche Figuren sie sich erinnern. Und die meisten kamen über Kay, Gerda und die Räubertochter kaum hinaus. Wer weiß schon, dass bei diesem Märchen in sieben Geschichten am Anfang der Teufel den Spiegel zerkloppt und seine Splitter auf die Erde verteilt? Oder dass die Reise am Ende auch zur Lappin und Finnin führt?

Seit April recherchiert Marita Erxleben gemeinsam mit Dramaturgin Nadja Hess, was es mit dem wohl kompliziertesten und vielschichtigsten Werk von Andersen auf sich hat, das eng mit dem Leben des Schriftstellers verbandelt ist. Schon mit 14 Jahren verabschiedete sich Hans Christian Andersen von seinem ärmlichen Zuhause und suchte in der Welt sein Glück. So wie Gerda, die sich nicht vom Weg abbringen lässt und dabei erwachsen wird.

Für die Regisseurin ist es ganz wichtig, eine klare Geschichte zu erzählen, gerade weil sie weiß, wie sie selbst einst beim Lesen über die vielen Metaphern und Doppelbödigkeiten stolperte. „Die Schneekönigin“ sei viel tiefschürfender als „Motte & Co“, ihrem Regieerstling, mit dem sie in der vergangenen Spielzeit das Publikum pointenreich verzauberte. „Die ersten zwei Wochen hat mich die ,eisige’ Geschichte auch nachts begleitet und ich wusste oft nicht, ob ich wache oder träume. Meine Familie musste mich immer wieder erden“: nicht nur der Ehemann, sondern auch die beiden Söhne. Durch ihren Großen, dem 20-Jährigen, kennt sie bestens die Phase der Pubertät, in dem sich auch Bühnenheld Kay befindet, der die eigene Verletzlichkeit mitunter schroff nach außen weiterreicht. Die Regisseurin möchte nichts beschönigen, wenn der Eissplitter in die Harmonie hinein trifft und sich Kay von seinen Liebsten abwendet. Die Zuschauer sollen mit den Figuren fühlen und leiden. Ihr 10-jähriger Sohn ist im Moment ihr bester Berater. Mit ihm diskutiert sie, was für Kay wichtig ist und erfährt, wie Kinder untereinander reden. Marita Erxleben nimmt die Vorbildwirkung des Theaters ernst: „Kinder spielen nach, was sie sehen. Das ist meine Verantwortung.“ Genug „Futter“ dürfte ihnen diese Inszenierung liefern, in der sieben Darsteller in 18 Rollen zu erleben sind. „Ich bin glücklich, meine Schnecke dabei zu haben“: Michael Schroth, der in „Motte & Co“ begeisterte und jetzt den Teufel und Raben gibt. Und auch Carolin Lux, die nun als Schneekönig das Unnahbare eines Models, das keine Gefühle zulässt, verkörpert. Und ein weiterer „großer Traum“ geht in Erfüllung, dass sie mit Rita Feldmeier arbeiten kann, die die Großmutter und Rosenfee spielt. Um die Kinder nicht zu verwirren, wenn die Schauspieler in bis zu fünf Rollen springen, sollen Perücken und Kostüme helfen, sie voneinander abzusetzen. „Es wäre schade, wenn die Zuschauer zur Krähe sagen: ,Du bist doch die Schneekönigin’.“ Marita Erxleben sieht sich vor allem als Impulsgeberin. „Als Regisseurin hat man eine Idee, klein wie ein Samenkorn. Doch durch das Mittun der Schauspieler kann es sich zu einem kräftigen Baum entwickeln.“

Ihre eigene Geschichte liest sich da selbst wie die Geschichte von Gerda, die auszog, das Leben zu lernen. Bevor Marita Erxleben zur gefragtesten Tanzpädagogin in Potsdam wurde, musste sie die eigene Orientierung finden. Zwar tanzt sie, solange sie denken kann, doch wurde sie erst einmal Kinderkrankenschwester. Sie arbeitete im Drei-Schicht-System und nahm parallel dazu Unterricht an einer Spezialschule für Tanz in Berlin. Doch nach der Geburt des ersten Sohnes nahm sie eine Auszeit und überprüfte, was sie wirklich will. Und da waren plötzlich 1989 ganz neue Freiheiten. Sie fuhr jedes Jahr nach New York, tanzte in offenen Klassen neben Tänzern, die am Broadway arbeiteten und bekam einen Riesenenergieschub. Bis sie in Potsdam ihr eigenes Tanzstudio eröffnete und mit sechs ihrer Schüler am Theater des Westens für den „Blauen Engel“ mit Ute Lemper einen Assistentenvertrag bekam.

Seitdem weiß sie, dass man nicht nur Nummern tanzen, sondern mit Tanz auch Geschichten erzählen kann. Der ehemalige Theaterintendant Uwe Eric Laufenberg bot ihr dafür eine große Bühne. „Als ich aber den leisen Versuch unternahm, auch Regie führen zu dürfen, erwiderte er nur lachend: ,Wenn Du Regie führst, mache ich Choreografie’.“ Umso mehr freute sie sich, als nach der Premiere ihres Balletts „Romeo und Julia“ von dem jetzigen Intendanten Tobias Wellemeyer das ersehnte Angebot kam. Marita Erxleben, die es gewohnt ist, Massen auf der Bühne zu bewegen und das große Bild im Kopf zu haben, denkt nun mit einem kleinen Schauspielerkreis viel detaillierter und in tiefer gehenden Bildern, „zumal bei einer Probenzeit von über sechs Wochen“.

Sie wird auch künftig weiter unterrichten und Tanzproduktionen auf die Bühne bringen. Doch sie kann es sich erlauben, auch mal „Urlaub“ von ihrer Schule zu nehmen, und die Verantwortung auf Lehrer zu delegieren, die an ihrer Seite gereift sind. So wie sie jetzt selbst mit dem Inszenieren reift. Und mit der Choreografie bei „My fair Lady“, die im Januar am HOT Premiere hat, nach weiteren Herausforderungen greift. „Es macht aber auch einen Wahnsinnsdruck, wenn Leute, die mich von der Tanzschule kennen, bei mir anrufen und sagen: ,Wenn Du das Weihnachtsmärchen inszenierst, kann ja nichts schief gehen’. Ich kann nur meine Sicht zeigen. Und damit ist man immer angreifbar.“

Leicht, aber nicht oberflächlich, tief, aber nicht schwer, so möchte sie die „Schneekönigin“ auf die Bühne bringen. Und natürlich will sie dabei auch ihrem Sohn gerecht werden, der fordert: „Ich will in eine Geschichte hineingezogen werden.“ Träume zum Greifen, wünscht sich eben jeder.

Premiere am Donnerstag, 18. November, 10 Uhr, Neues Theater, ab sechs Jahre

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