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In Zukunft auch mit literarischem Salon. Die Villa Schöningen.

©  Andreas Klaer

Von Gerold Paul: Zettels Traum und Chinas Leben

Zwei neue Lesereihen mit dem Verein Quer.Kultur und in der Villa Schöningen

Zwei neue Lesereihen in und für Potsdam feierten am Wochenende ihren Urstand, zweimal Geist, zweimal Leben. Der gerade mal drei Wochen alte Verein Quer.Kultur hatte sich am Samstag in der Galerie Ruhnke ausgerechnet „Zettels Traum“ als Einstand ausgesucht. Das schwerste und mit Abstand dickste Werk des 1979 in Celle verstorbenen Literatur-Avantgardisten Arno Otto Schmidt. Sechs Kilo, tausendvierhundert Seiten, und zudem in einer schier unergründlichen Diktion verfasst. Der zweite Veranstalter an der Glienicker Brücke möchte gemeinsam mit der momentan ausgelagerten Stadtbibliothek die alte Tradition der literarischen Salons neu beleben, wofür man auf eher Gediegenes zurückgriff.

Die Ur-Veranstaltung von Quer.Kultur in der sponsernden Galerie Ruhnke am frühen Samstagabend war sehr gut frequentiert, jene in der Villa Schöningen mit dem Autor Jan-Philipp Sendker schon Wochen vorher ausverkauft, was nicht unbedingt an dem kleinen chinesischen Imbiss nach Sendkers wunderbarem Vortrag über das „Reich der Mitte“ gelegen haben wird.

Der siebenköpfige Quer.Kultur-Verein mit Katharina Jung an der Spitze versteht sich naturgemäß als Frischling. Es gibt noch kein festes Programm, keine zweite Veranstaltung nach „Zettels Traum“, dafür viel Aufbruchsstimmung in Richtung einer vagen Avantgarde-Idee. Vielleicht kann der seit 1958 in Bargfeld bei Eschede lebende Sonderling dabei helfen. Eingeladen in die Galerie Ruhnke war die gleichfalls dort beheimatete Arno Schmidt Stiftung, in deren Auftrag „Zettels Traum“ jetzt herausgegeben wird. Ein Wälzer im A3-Format, kein Kassenrenner für den kooperierenden Buchladen Wist, aber etwas Gediegenes fürs Leben – und den bibliophilen Sammler-Geist ad hoc. Vier Protagonisten werden in „Zettels Traum“ von Arno Schmidt über gut vierundzwanzig Stunden voyagiert. Doch wie die Handlung, die sich immer wieder um das Werk von Edgar Allan Poe zu drehen scheint, kaum wirklich zu beschreiben ist, so erst recht nicht des Autors Kunst, über „Urworte“ und ein lautbildförderndes Zeichensystem mehr über diesen Text zu sagen, als Augen und Geister verstünden. Warum auch, man kann „Zettels Traum“ zum derzeitigen Vorzugspreis von etwa dreihundert Euro ja selber erstehen. Stiftungsmitglied Susanne Fischer führte in Arno Schmidts Opus magnum ein, der Typograph Friedrich Forssmann berichtete von seiner Leidenschaft, das Typoskript in ein kongeniales Buch verwandelt zu haben, Bernd Rauschenbach las mit ihm gemeinsam einige Szenen aus „Zettels Traum“ welcher sich einmal auf die Figur des Zettel bei Shakespeare, aber auch auf den Zettel als ein Stück Papier bezieht.

Viel weniger kryptisch ging der ehemalige Stern-Korrespondent Jan-Philipp Sendker in der Villa Schöningen daran, von seinen China-Abenteuern zu erzählen und wie nebenbei seine beiden daraus entstandenen Romane anzuzeigen. Auch ohne literarische Ader ist er davon überzeugt, ein Land am besten durch dessen Geschichten darstellen zu können, und davon hat er jede Menge erlebt. Er sah, wie stinkreiche Chinesen unbewegten Gesichts Vermögen verspielten, während vor der Tür die Ärmsten der Armen verreckten, und wie man für Shanghai schönes Wetter ansagte, das man ob des dichten Smogs aber nicht sah. Nur die Gegensätze, ja die Extreme hielten das Land zusammen, meinte er.

China, welches die Schulden der halben westlichen Welt von den Staaten bis zu Portugal bezahlt habe, ist Asien, und Asien, das sei China. Ein ungeheurer Aufbruch sei derzeit im Gang, jetzt erwachten nicht nur die vakanten Traumata einer immer noch nicht verarbeiteten Kulturrevolution, die Chinesen würden allmählich auch merken, „dass sie Gefühle haben und Gefühle auch zeigen“ dürften, so Sendker in seiner sympathischen Art. Eine Explosion der Gefühle werde von der nur noch formal zum Kommunismus stehenden Führung genauso gefürchtet, wie das Internet, immerhin dreihundertfünfzig Millionen Nutzer, mehr als in Europa. Alle Religionen seien möglich, so Sendker. Der höchste Gott aber heiße Pragmatismus, gehüllt in ein Glitzergewand. „Mit Geld bist du ein Drache, ohne Geld bist du ein Wurm“, sagt man dort. Man fange jetzt auch an, ein ziviles Rechtssystem aufzubauen. Bisher sprach zwar ein Richter die Urteile, das Zünglein an der Waage war aber immer eine kleine, kleine Parteigruppe, die alles entschied. Jetzt endlich gäbe es an den Universitäten auch juristische Fakultäten – und Anwälte mit Courage, dieses Recht auch einzufordern. Alles im Aufbruch, alles in Unruh, er habe zwischen 1995 und 1999 Leute getroffen, deren Geschichten an einem selbstgebauten Kiosk begannen und als Fabrikbesitzer endeten. „Ich glaube an die Macht der Geschichten“, sagte Sendker.

Zettels Traum und Chinas Leben – Chinas Traum und Zettels Leben: So krebst man also dahin. Auf der Suche nach der kryptischen Wahrheit in Bargfeld, ganz pragmatisch in einem Reich, das sich immer noch als Mitte der Welt versteht. Beides gehört untrennbar zusammen.

Gerold Paul

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