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Von Astrid Priebs-Tröger: Zeit zum Wachsen

Die 20. Tanztage gingen mit berührendem Jugendtanzprojekt und neuem Besucherrekord zu Ende

Das quirlige Kinderfest war gerade zu Ende. Und die brasilianische Companhia de Danças aus Rio de Janeiro würde zwei Stunden später mit ihrer grandiosen Welle die große Bühne der fabrik noch ein letztes Mal überfluten. Genau dazwischen gab es am Sonntagabend, dem Abschlusstag der diesjährigen Tanztage, im T-Werk ein Tanzereignis der besonderen Art zu erleben. Neun Tänzerinnen und Tänzer im Alter von 12 bis 19 Jahren zeigten dort ihr in den vergangenen acht Monaten erarbeitetes Tanzstück „Dance“.

„Dance“ beruht auf einer Partitur, die der Choreograf Frédéric Gies geschrieben und die die Tänzerin Odile Seitz mit Jugendlichen aus Potsdam mit Leben erfüllt hat. Die Mitwirkenden, die vorher nie getanzt haben, unternahmen mithilfe von Body Mind Centering eine Reise in den eigenen Körper. Sie erkundeten die unterschiedlichen tänzerischen Qualitäten von Körperflüssigkeiten und inneren Organen, Haut und Knochen oder Drüsen und Muskeln. Und spürten dabei die verschiedenen Energien, die ihnen selbst und der Gruppe innewohnen.

Odile Seitz beschrieb, nachdem die Jugendlichen in hochkonzentrierter Stille beziehungsweise zu Musik von Madonna getanzt haben, wie beglückend es für sie selbst war, zu erleben, wie aus einem schlaksigen Mädchen im Probenprozess eine runde junge Frau wurde. Oder wie zwei Jungen, die anfangs am liebsten nur Ball spielten, zu tiefer Konzentration und Sammlung gelangten. Das konnte am Sonntag jeder erfahren, beispielsweise wenn die Jugendlichen minutenlang in der Gruppe über die Bühne rollten oder wie afrikanische Tänzer kraftvoll erdig tanzten.

Und dabei keine Bewegung der jeweils vorangegangenen glich. Die ganz unterschiedliche körperliche Präsenz war ein ungemein starker Eindruck, der erahnen ließ, wie viel Freiheit und Zeit zum Wachsen die beiden Lehrer den Jugendlichen gelassen haben. „Mir hat Dance sehr gut getan.“ „Das Tanzen stärkt, berührt, beglückt und erfüllt mich.“ „Ich hätte mir nie erträumt, dass man seinen Körper so intensiv spüren kann“. Das schrieben die Jugendlichen zum Abschluss an Odile Seitz und es war auch als Zuschauer berührend mit anzusehen, „dass sich der Körper freuen kann“.

Dieses Projekt, das im Rahmen von Tanzplan Deutschland stattfand, sollte fortgesetzt werden, da es einen ungemein sensiblen und tiefgreifenden Zugang zum modernen Tanz ermöglicht. Den sich die „fabrik“-Gründer schon vor zwanzig Jahren auf die Fahnen geschrieben haben. Und der im Jubiläumsjahr überzeugend angenommen wurde. 7600 Besucher – fast 2000 mehr als im Vorjahr – haben 2010 die 22 Tanzaufführungen, die 18 Workshops, die 12 Publikumsgespräche und die zahlreichen weiteren Angebote wie die Swing-Stadtführung, den HavelHop und die Contact-Jam-Tage besucht.

Die Angebote zum Mitmachen oder -tanzen haben dabei absolut mehr Besucher als die Aufführungen, die in diesem Jahr rund 3000 Besucher sahen. Was mit dem wunderbar entschleunigten „Ballett der Boote“ anfing, war am eigenen Leib in einem der zahlreichen Workshops zu spüren, die zur entspannt-familiären Situation auf dem gesamten weitläufigen Gelände der Schiffbauergasse beitrugen. Denn die, die tagsüber Tai-Chi, Dao-Yin, Afro Modern oder Butoh-Ma erprobten, waren abends oft in den Vorstellungen oder Konzerten. Und trafen dort auf Künstler wie die Brasilianerin Lia Rodrigues, die ungemein lebendig und anschaulich von ihrem Tanzprojekt in einer der größten Favelas von Rio de Janeiro berichtete. Und die, wie Benno Voorham oder Chiang-Mei Wang, zu den regelmäßigen Gästen der „fabrik“ zählt.

Daneben gab es großartige Neuentdeckungen wie die theatralisch dichte und philosophisch tiefgründige Arbeit der Kanadierin Crystal Pite (siehe Rezension) oder die fantasievoll-charmante Choreografie der clownesken Jongleure vom Collectif Petit Travers aus Toulouse.

Das alles wäre nicht möglich gewesen, ohne die vielen helfenden Hände im Hintergrund, die in ihren orangefarbenen T-Shirts, wie Christin Cammradt sagte, die „kleinen Helden des Festivals“ waren. Bleibt zu wünschen, dass sich die fabrik auch in den kommenden Jahren viel Freiheit und weiterhin Zeit zum Wachsen nimmt und die Schiffbauergasse eine sehr gute Adresse für ein offenes und begeisterungsfähiges Tanztheater-Publikum bleibt.

Astrid Priebs-Tröger

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