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Von Astrid Priebs-Tröger: Zärtlichkeit und Aggression

Die norwegische Choreografin Ina Christel Johannessen begeisterte in der „fabrik“

Was für eine Geschichte! Ein Mann sieht eine Frau nackt und wird dafür mit dem Tode bestraft. Und mit was für einem Tod: Der leidenschaftliche Jäger wird in einen Hirsch verwandelt und bei vollem (menschlichen) Bewusstsein von seinen eigenen Hunden zerfleischt. So wird es jedenfalls in Ovids „Metamorphosen“ überliefert, der im dritten Buch die frevelhafte Begegnung zwischen Actaeon und der Göttin Diana schildert. Die war in der römischen Mythologie die Göttin des Mondes und der Jagd. Sie war zuständig für die Fruchtbarkeit und Beschützerin der Frauen und Mädchen, hatte jedoch auch Züge einer Todesgöttin.

Dieser antike Mythos ist in der Choreografie „It’s only a rehearsal“ von Ina Christel Johannessen, die am Wochenende in der Reihe „Meisterchoreografien“ in der „fabrik“ zu Gast war, die Folie, vor der sich die Beziehung eines Paares abspielt. Doch ganz am Anfang der fast 80-minütigen Aufführung, die schon vor sieben Jahren in Potsdam gastierte und hier ihre Deutschlandpremiere erlebte, weist erst einmal rein gar nichts auf diesen Hintergrund hin.

Die beiden Tänzer stehen locker am Bühnenrand und schauen sich an, wer zu ihrer Vorstellung kommt. Beide tragen leger-moderne Freizeitkleidung und bequeme Schuhe und es macht so gar nicht den Eindruck, dass sie wenige Minuten später in einen leidenschaftlichen Pas des deux voller Liebe und Tod verstrickt sein werden.

Nein, erst umkreisen sie sich, ER (Dimitri Jourde) zeigt, was er körperlich drauf hat, grandiose Schulterarbeit zum Beispiel, SIE (Line Tørmoen) ist da noch ganz bei sich und nicht wirklich von ihm beeindruckt. Doch nach und nach entwickeln sich aus den mehrmaligen Umkreisungen gleiche Bewegungsabläufe und eine höhere Dynamik, schließlich kommt es zur ersten Berührung und unmittelbar danach zum gegenseitigen Überrennen, beide finden sich am Boden wieder. Und schon in den ersten Minuten des ausdrucksstarken Tanzes liegen Zärtlichkeit und Aggression, Liebe und Kampf, Nähe und Distanz, kaum aushaltbar in ihrer gegensätzlichen Energie, kompliziert verflochten beieinander. Nach einer halben Stunde steht SIE schließlich als lächelnde Siegerin am Bühnenrand. Da hat SIE die Einsamkeit und das auf sich selbst Geworfensein schon wieder überwunden und hält möglicherweise nach einem neuen Liebhaber Ausschau?

Das Publikum in der bis auf den letzten Platz besetzten fabrik ist jedenfalls unschlüssig und klatscht in der entstandenen Stille erst mal aus Verlegenheit. Doch die ist nur das Vorspiel zur nächsten Runde. Die vom Festklammern, der Überwältigung, bis zur Verzweiflung, dem Besitzergreifen, der Grenzüberschreitung und der beiderseitigen Erschöpfung alles spiegelt, was menschliche (Liebes-)beziehungen ausmachen können. Zu einem sich steigernden kongenialen elektronischen Soundtrack (Musik: Murcof) zeigen Dimitri Jourde und Line Tørmoen das Anwachsen der Begierde, Momente des Widerstandes und der Hingabe, und in einem beinahe clownesken Reigen, das absolute einander Verfallensein: Ein nicht enden wollender Kuss, als seien beide mit den Mündern ineinandergewachsen. Das ist kaum noch zu steigern, doch in einer weiteren sehr erotischen Sequenz kommt es mithilfe verblüffender Hebungen und Verschlingungen schließlich auch zur Vereinigung und dem nachfolgenden Gefühl der Leere.

Und dann? Kommt der größte Bruch. Denn jetzt, ihre Verzweiflung und seine Hilflosigkeit sind kaum abgeklungen, wird der hintere Bühnenprospekt auseinandergezogen, eine Küstenlandschaft mit vom Wind zerzausten Nadelbäumen wird darauf sichtbar und gleich daneben liegt ein zusammengebrochener kapitaler Hirsch. Und so kommt der Mythos direkt ins Spiel. Der eine Sage ist über Voyeurismus und das Motiv der Hingabe, der die Scham und die notwendige Auslieferung des eigenen Begehrens an die Lust des anderen beschreibt und vom Verhüllen und Entblößen und allem, was dazwischen geschieht, erzählt.

Dimitri Jourde erzählt ihn in französischer Sprache, und damit hauptsächlich verständlich für die französischsprachigen Kinder im Publikum, die sich nicht nur wegen der lebhaften Ausschmückungen köstlich amüsieren. Das ist ein unglaublicher Vorgang, der von den Schlussbildern über das eigene Zerfleischtwerden und die Einsamkeit kaum zu übertreffen ist.

Bravorufe und viel Applaus nach dieser geradezu alterslosen Aufführung, die durch zwei grandiose Tänzer, SIE mit geschmeidigen katzenhaften Bewegungen, ER mit überaus artistischen Einlagen bis hin zu Streetdance-Figuren, einen unwiderstehlichen Sog entwickelte.

Ina Christel Johannessen wird am 3. und 4. Juni bei den Potsdamer Tanztagen 2011 mit ihrer neuesten Produktion "(im)possible" zu Gast sein.

Astrid Priebs-Tröger

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