zum Hauptinhalt

Von Astrid Priebs-Tröger: „Wir leben, solange Gott es will!“

Fotografien aus Tschernobyl von Barbara Thieme in der Friedrich-Naumann-Stiftung

Die ersten Worte, die der Potsdamer Fotografin Barbara Thieme vor zwei Jahren einfielen, als sie in Weißrussland, 150 Kilometer entfernt von Tschernobyl, einer alten Frau im Wald begegnete, waren: „Menja sawut Barbara“. Babuschka Ljuba wollte von der Deutschen im PKW mitgenommen werden, um im fast 20 Kilometer entfernten Laden Lebensmittel einzukaufen. Die 63-jährige Ljuba gehört zu den sechs Einwohnern, die heute das nordöstlich von Gomel gelegene Dorf Bartolomeevka bewohnen, das vor dem Reaktorunfall in Tschernobyl über 1200 Menschen eine Heimat bot.

Bartolomeevka wurde wie 450 andere Dörfer und Städte umgesiedelt, doch gerade viele alte Menschen haben die Evakuierung und die Ansiedlung in aus dem Boden gestampften Orten, mit zum Teil zehnstöckigen Hochhäusern, vor allem psychisch nicht verkraftet. Wie die alte Ljuba kehrten sie in ihre äußerlich nahezu unversehrten Häuser zurück und nehmen es seitdem in Kauf, ohne Strom und fließend Wasser, fast gänzlich abgeschnitten von der modernen Zivilisation, ihr erdverbundenes Leben zu führen. Trotz radioaktiv verseuchter Umwelt produzieren sie ihre eigenen Lebensmittel, halten Tiere und ernähren sich von den Früchten des Waldes.

„Wir leben, solange Gott es will“, sagte Ljuba bei der ersten Begegnung. Dieser Satz steht jetzt als Motto über der Ausstellung, die Barbara Thieme seit Donnerstagabend in der Friedrich-Naumann-Stiftung in Babelsberg präsentiert. Auf 26 Fotografien gewährt die Potsdamerin Einblicke in eine Welt, die bei flüchtigem Hinsehen wie vom Anfang des vorigen Jahrhunderts anmutet und beinahe alle russischen Märchenklischees im Nu im Kopf entstehen lässt. Reich geschnitzte Holzhäuser, Großmütter mit geblümten Kopftüchern und Stuben mit weißen Gardinen und handbestickten Paradekissen.

Doch dieser erste Eindruck verfliegt schnell, wenn man die Frauenporträts länger ansieht. Dann entdeckt man sehr viel Wärme im Blick der Alten, bemerkt aber auch Gram, Trauer und Enttäuschung. Barbara Thieme blickt nicht mit voyeuristischem Blick auf „Opfer“, sondern eher mit Staunen und viel Zuneigung. Andere Porträtierte, wie die Buchhalterin Anja, die mit ihrem Sohn Oleg im viel weiter entfernten Umsiedlergebiet Oktjabrskij lebt, haben sehr schmale Lippen und man merkt auch in ihrem Blick, dass sie einiges in ihrem Leben erleiden mussten. Aber sie strahlen wie die Alten auch etwas Trotziges und vor allem Würdevolles aus.

Auf vielen Fotografien im Atrium des Truman-Hauses fällt immer wieder die üppige Natur auf, und wenn man es nicht besser wüsste, wäre die Dorfstraße von Bartolomeevka heute eine perfekte Sommeridylle. Stattdessen finden sich im Haus der 80-jährigen Elena eine Liste mit den Strahlenwerten von 13 Menschen, die aus dem Jahr 2009 stammen und anstelle des Ortsschildes eine Warnung, das Dorf zu betreten. Der Friedhof jedoch zeigt mehrere frische Grabstätten, weil ehemalige Dorfbewohner, selbst wenn sie jetzt weit entfernt leben, ihren Toten den letzten Wunsch erfüllen, in heimatlicher Erde begraben zu sein.

Die ukrainische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch hat zehn Jahre nach dem GAU von Tschernobyl mit Menschen gesprochen, für die die Atomkatastrophe zum zentralen Ereignis ihres Lebens wurde. In „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ kommen auch Leidensgefährtinnen von Ljuba, Elena und Anja zu Wort und wer das Buch gelesen hat, ist dankbar, dass Barbara Thieme, die vor zwei Jahren zum ersten Mal mit dem Michendorfer Verein der Tschernobylkinder nach Weißrussland reiste, gerade diesen Frauen ein Gesicht gegeben hat.

Besonders berührt war die Fotografin, die Ljubas Worte nach ihrem ersten Besuch, „Komm wieder, Barbara!“, nicht vergessen konnte, von dem Lebenswillen der Frauen. Sie erzählt, wie verzaubert sie war, als Elena sie zum ersten Mal in ihr Haus ließ. Mit eigenen Händen hat die ehemalige Melkerin Gardinen und Kissen bestickt, Kunstblumengirlanden aufgehängt und alte Familienfotos altarähnlich angeordnet. Man hat, wenn man die Fotos jetzt sieht, den Eindruck, als würde jederzeit Besuch vorbeikommen können.

Das macht diese Bilder so eindrücklich und erzählt mehr als viele Worte. Und es trägt vor allem dazu bei, die Frauen in Bartolomeevka und fünf Millionen andere Menschen, die heute auf weißrussischem, ukrainischem und russischem radioaktiv belasteten Gebiet leben, nicht gänzlich zu vergessen.

Zu sehen bis 1. Juli, Montag bis Freitag, 7 bis 19 Uhr und am Wochenende 10 bis 18 Uhr, Truman-Haus, Karl-Marx-Straße 2, Nähe S-Bahnhof Griebnitzsee. Eintritt frei

Astrid Priebs-Tröger

Zur Startseite