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Von Astrid Priebs-Tröger: Messerstiche in die Seele

„Voll abgedreht“: Thema Mobbing im Theater

Stimmengewirr, Gekicher, Gekreische: Im Zuschauerraum in der Reithalle A klang es am Montagabend wie auf einem Schulhof. Und nur wer in den kurzen Momenten der Stille ganz genau hinhörte, merkte, dass vor der Potsdam-Premiere des Stückes „Voll abgedreht“ auf der Bühne genau die gleiche Tonspur lief. Worum geht’s denn?, fragte eine hastig herbeigeeilte Zuschauerin ihre Sitznachbarin. Und die entgegnete, als sei es das Normalste auf der Welt, dass „Voll abgedreht“ des kanadischen Autors Rex Deverell von Mobbing handelt.

Einem Thema, das verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge, beinahe jeden zehnten Schüler betrifft. Wohlgemerkt als Opfer, denn die Täter sind dabei deutlich in der Überzahl. Also ist es nicht verwunderlich, dass ein Großteil von Schülern sowohl direktes Mobbing (Hänseln, Drohen, Beschimpfen, Bloßstellen, Schikanieren u.a.) als auch indirektes Mobbing (Ausgrenzen, Ruf schädigen, „Kaltstellen“) aus eigener Erfahrung kennt.

Deverells Vier-Personen-Stück beginnt stressig. Jennifer (Friederike Walke), Tim (Eddie Irle), Ben (Florian Schmidtke) und Trixi (Franziska Melzer) sind verdächtig, ein Klassenzimmer total verwüstet zu haben. Die Freunde sollen sich vor dem Schulleiter zu ihrer Tat bekennen. In der nun folgenden Schulstunde – auch die rasante Inszenierung von Katharina Holler ist genau 45 Minuten lang – versuchen sie, denjenigen dingfest zu machen, der ihnen das angetan haben könnte. In einem Spiel im Spiel loten sie in wechselnden Rollen Situationen aus, in denen sie ihre neue Mitschülerin Babs, die so gar nicht in ihre Gruppe zu passen scheint, gehänselt, schikaniert und ausgegrenzt haben. Dieses „Faktensammeln“ soll dazu dienen, die angestaute Wut von Babs als Ursache für die Demolierung des Klassenzimmers zu beweisen.

Ein ziemlich abgefeimter Plan, den das Muttersöhnchen Ben, da entwickelt hat. Im nun folgenden Rollenspiel, in dem alle selbst abwechselnd Täter und Opfer sind, beginnen sie bald zu spüren, wie sehr diese direkten und auch die subtilen Messerstiche die Seele verletzen. Großartig wie Eddie Irle als smarter Maulheld ganz körperlich spürt, was es heißt, die eigenen Träume nicht erfüllt zu bekommen, weil die Eltern das Geld für das ersehnte Keyboard nicht aufbringen können. Oder wie die scheinbar total abgebrühte Trixi (Franziska Melzer) erfährt, wie es sich anfühlt, wenn die ganze Klasse ihre Gefühle für Ben öffentlich macht und verspottet.

Diesen beiden Schauspielern gelingt in der Potsdamer Inszenierung besonders überzeugend der Spagat zwischen Täter- und Opfersein. Florian Schmidtke und Friederike Walke haben bei Weitem nicht so starke Möglichkeiten und Letztere scheint in ihrem übertrieben pinkfarbigen Kostüm (Sven Nahrstedt, der auch die überzeugend funktionale Bühne verantwortet) eher selbst auf die Opferseite zu passen. Doch alles in allem ist die Inszenierung eine genaue Momentaufnahme hiesiger Klassenzimmer, die besonders durch die überzeugende Benutzung jugendlicher Körpersprache und das präzise Ausloten von Gruppenverhalten besticht. Und weil sie sich auch nicht auf eine Eins-zu-eins-Schilderung von Ausgrenzungssituationen einlässt, sondern zur Überhöhung Westernmusik („Spiel mir das Lied vom Tod“) und Gestus einbezieht, kommt sie auch nicht mit dem pädagogischen Holzhammer daher. Denn die Jugendlichen im Zuschauerraum haben nicht nur etwas zu lachen, sondern sie werden schlaglichtartig mit Brüchen in (Mobbing-)biografien konfrontiert, was es ihnen ermöglicht, selbst Position zu beziehen.

Astrid Priebs-Tröger

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