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Von Astrid Priebs-Tröger: Ästhetische Überwältigung

Die kanadische Company „O Vertigo“ gastierte in der „fabrik“ in der Reihe „Meisterchoreografen“

Vor genau einem Jahr war ihr Lehrer Daniel Léveillé in der Reihe „Meisterchoreografen“ in der „fabrik“ zu Gast. Und während dieser mit vier vollkommen nackten Tänzern die Schönheit und Zerbrechlichkeit der menschlichen Körperarchitektur feierte, hat sich seine frühere Schülerin, die inzwischen 56-jährige kanadische Choreografin Ginette Laurin, mit ihrer jüngsten Produktion „Onde de Choc“ (Schockwelle) an die Darstellung dessen gewagt, was sonst im Inneren des menschlichen Körpers verborgen bleibt: Das Rauschen des Blutes, das Schlagen des Herzens oder das Fließen des Atems, der das Leben möglich macht.

Ganz zu Anfang der beiden Aufführungen, die am Wochenende in der ausverkauften „fabrik“ stattfanden, hörte man kraft Verstärker erst mal nichts weiter als das Schlagen eines menschlichen Herzens. Gleichförmig, zuverlässig und sehr vertraut klang das. Am Ende der überaus dynamischen einstündigen Aufführung standen die fünf Tänzerinnen und drei Tänzer mit kunstblutenden und jetzt wahrscheinlich rasend schnell schlagenden Herzen auf der Bühne. Dazwischen lag ein faszinierend komplexes Wechselspiel von Musik und modernem Tanz, das durch die Musik des Komponisten Michael Nyman, der auch die berühmte Filmmusik für „Das Piano“ schuf, und die Geräusche des Sounddesigners Martin Messier wesentlich geprägt und vorangetrieben wurde. Die Komposition von Michael Nyman pendelt dabei zwischen Minimal Music und Elementen, die man irgendwann schon einmal gehört zu haben glaubt. Und sie gibt die Dynamik, die Stimmung und beinahe die Frequenz der Bewegungen vor.

Gleichzeitig lässt die international gefeierte Choreografin Ginette Laurin die Bewegungen ihrer sehr präsenten und artistisch beeindruckenden Tänzer in Klänge übersetzen. Ein parallel zur Bühne installierter Laufsteg spielt dabei Bewegungsaktionen der Tänzer über Sensoren direkt in die Komposition. Wechselseitig beeinflusst entstehen so immer wieder Tanzszenen, beispielsweise zu an Meeresrauschen erinnernde Klänge. Da fließt, zuckt und rudert eine einzelne Tänzerin über den Laufsteg, nicht wie ein Fisch auf dem Trockenen, sondern wie ein Wesen, für welches das eine ästhetische Herausforderung ist. Und als später heftige Herztöne eines Einzelnen in Maschinenlärm übergehen, geraten die Tänzer in unkontrollierbare Vibrationen, die sich schließlich hin zu ekstatischen Zuckungen der gesamten Gruppe entwickeln und mit seligem Gesichtsausdruck aller enden.

Um die inneren Zustände, die zwischen solchen Extremen möglich sind, auch optisch sichtbar zu machen, ist die Bühnenvertikale durch einen Lichtbalken durchbrochen, auf dem die akustischen Signale in optische verwandelt werden und ein eindrucksvolles Lichtspiel von Martin Labrecque zeigen. Dieses fast wie im Film wirkende und einen ganz eigenen Sog entwickelnde Zusammenspiel ist technisch aufwändig und perfekt und macht einen Großteil der Faszination des Gesehenen aus. Doch man gelangt als Zuschauer an den Punkt, an dem man sich wünscht, dass die optische und akustische Eindringlichkeit auch kinetisch und vor allem emotional erreicht wird. In einem Großteil der Choreografie, die immer beeindruckend kraftvoll getanzt wird, haben zu wenige Sequenzen nur bedingt etwas mit dem gewünschten Sichtbarmachen des Zusammenhangs von elementaren Körperfunktionen und Emotionen zu tun. Und wenn, wie zum Beispiel als die Gruppe in entspanntes Lachen ausbricht, dann verfliegen sie zu schnell. Auch in den zahlreichen Pas de deuxs wechseln die Emotionen zwischen Zärtlichkeit und Hingabe, Brutalität und Kampf enorm schnell.

Eindringliche Momente entstehen vor allem dann, als nach den Maschinenlärmvibrationen elektronische Pieptöne Lebensgefahr suggerieren und einzelne Tänzer versuchen, ihre Kollegen wiederzubeleben, um dann wie unbelebte Gliederpuppen über den Laufsteg geschoben und gezogen werden. Oder wenn eine Tänzerin und ein Tänzer, verbunden durch ein rotes Band, ihren gleichklingenden und trotzdem ganz unterschiedlichen Herzschlag entdecken, der mittels Stethoskop verstärkt und für alle im Saal hörbar gemacht wird. Und schön auch, wenn die Paare kurz vor dem sehr theatralischen Schluss die Lebendigkeit und Zerbrechlichkeit des Herzschlages ihres Gegenübers für einen kurzen Moment erfühlen.

Doch insgesamt rollt die Vorstellung wie eine Welle, auch aus einigermaßen rätselhaften Sequenzen wie der „Kostümszene“, über die Zuschauer hinweg, ohne wirklich deren Herzen zu berühren. Sie fasziniert vor allem mit ihrer optisch-akustischen Komplexität, der ästhetischen Strahlkraft der Bilder und dem meisterlichen Können der Tänzer, sodass am Ende eine ästhetische Überwältigung entsteht, aus der man leider emotional ziemlich unberührt hervorgeht.

Am 16. und 17. April ist die norwegische Choreografin Ina Christel Johannessen mit „It’s only a rehearsal“ in der Reihe „Meisterchoreografen“ in der „fabrik“ in der Schiffbauergasse zu Gast

Astrid Priebs-Tröger

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