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Zwei Schälchen für Aschenbrödel. In dem Stück von Anja Kozik sollte jede Tänzerin zur Geltung kommen. Rund einhundert Mädchen und Jungen aus den Kursen im Oxymoron tanzten auf der Bühne. Auch die Täubchen hatten ihren Auftritt.

© Manfred Thomas

Kultur: Vom Cinderella-Komplex befreit

Stark und anmutig: Kinder und Jugendliche tanzten „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ im T-Werk

„Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ gehört inzwischen zu den gesamtdeutschen Weihnachts-Filmklassikern. Jetzt in der Adventszeit wird die 1973 entstandene tschechisch-ostdeutsche Produktion von Václav Vorlícek von unzähligen Sendern gezeigt. Auch wenn dieses prachtvoll ausgestattete Epos inzwischen doch ein wenig überzuckert wirkt, versammeln sich Jung und Alt beinahe rituell jedes Jahr vor dem Bildschirm und lassen sich immer wieder aufs Neue verzaubern.

Von dieser erwarteten Wirkung auf mehrere Generationen profitierte auch die Tanzinszenierung, die am Freitagabend im T-Werk unter der Regie von Anja Kozik zur Premiere kam. Man konnte im Foyer des T-Werks kaum treten, denn Kinder und Eltern, Großeltern und Freunde wollten die etwa einhundert Tänzerinnen und Tänzer aus den Kursen der Oxymoron Dance Company erleben, die sich diesen Märchenklassiker auf ihre ganz eigene Weise angeeignet hatten.

Schon rein äußerlich unterschieden sich beide Inszenierungen erheblich. In Anja Koziks Bühnenfassung reichen weiße Aushängungen, auf die das Interieur eines Zimmers beziehungsweise die Säulen des königlichen Ballsaals aufgemalt sind, um die Örtlichkeiten anzudeuten. Es gibt keine prachtvollen Ballroben oder weiße Pferde, sondern moderne Diskokleidchen und Shorts über Leggings, von der Decke hingen drei Trapeze, an denen ein Dutzend Mädchen kraftvoll artistische Kunststücke vollführte.

Und bereits die erste Szene zeigte, dass noch etwas ganz anders als in der Vorlage ist. Denn gleich zu Beginn eroberten viele große und kleine Tänzerinnen die Bühne und es war gar nicht leicht, unter ihnen die Hauptfigur auszumachen. Die gab es natürlich. Aber es war Absicht, nicht nur die Geschichte dieses einen Mädchens herausgehoben zu erzählen, sondern viele junge Menschen mit ihren Erfahrungen ins Rampenlicht zu stellen. Denn jedes Mädchen – und hier sogar die Jungen – will gesehen und anerkannt werden und das ist in dieser Aufführung ganz großartig gelungen!

Erst seit September proben die Kinder vom Grundschulalter bis hin zu den Abiturienten in den Modern-Dance-Kursen von Isabel Gerschke, Maggie Nicolei, Dennis Dietrich und Lisa Müller, bei Isaac Kyere und Lamin Momoudu HipHop und unter der Leitung von Timo Draheim und Pedram Yousefi Breakdance an diesem gemeinsamen Tanzstück. Und es gibt für alle, immer entlang an den Motiven der märchenhaften Vorlage, viele Gelegenheiten, ihr beeindruckendes tänzerisches Können zu zeigen.

Noch eine schöne Idee: Gleich zu Anfang gesellen sich zu den „Aschenputtels“ Jungen in weißen Hemden mit farbigen Fliegen. Und ehe sie sich’s versehen, drückt ihnen Cinderella Teller in die Hand und sie verwandeln sich in kleine Kellner. Doch kurz darauf bekommen auch sie Gelegenheit, ihre Hip Hop- und Breakdance-Künste vorzuführen und sich so aus der uniformierten Gruppe herauszuheben. Und das geschieht immer wieder. Jede und jeder wirkt am großen Ganzen mit und hat doch Gelegenheit, dabei seine Individualität zu entwickeln und auch zu zeigen.

Ganz wichtig bei so einem Jugendtanzprojekt ist natürlich die Musik. Die Soundbearbeitung der Originalmusik, die Soundcollagen und Technobeats stammen von Christoph Kozik. Dabei wechseln klassisch inspirierte Stücke von deutschen zeitgenössischen Komponisten wie Max Richter und Sven Helbig mit Popmusik von Tove Lo und Mapei, bis hin zu Techno von Moderat oder Reggae-Dancehall von Major Lazer. Und der Höhepunkt für alle Generationen: die Backstreet Boys mit „Everybody“.

Diese emotional aufgeladene Musik erzählt mehr und heutiger über die innere Befindlichkeit von jungen Menschen, als es die filmische Märchenvorlage kann. Dabei ist es wunderbar anzusehen, wie die Altersunterschiede der Tänzerinnen und Tänzer zum Tragen kommen. Die Präsenz der Jüngsten ist eine ganz andere als die der Älteren, die schon zielgerichtet auf das „andere“ Geschlecht wirkt. Doch das ist hierbei nicht die Hauptsache. Auch die Beziehung zwischen Aschenbrödel und dem Prinzen steht nicht im Vordergrund. Beide sind schüchtern und finden sich zufällig. Und: Es gibt am Ende keine rauschende Hochzeit, sondern ein Tanzfest für alle. Hier geht die Inszenierung klar über das inzwischen etwas angestaubte Frauenbild des Märchenklassikers hinaus. Denn Aschenbrödel und all die anderen haben keinen Cinderella-Komplex – sie sind für sich allein und gemeinsam als Gruppe stark.

Schön, dass Anja Kozik bei allem auch auf Details achtet. Märchen-Accessoires beziehungsweise Texte daraus werden immer wieder zitiert und selbst die Täubchen haben einen Auftritt, der dann zu mehreren Trapeznummern (Leitung: Petra Teckemeier) ausgebaut wird. Diese starken und anmutigen Mädchen brauchen nun wirklich keinen Prinzen, der sie aus ihrer (misslichen) Lage befreit. Das ist zwar auch in der filmischen Vorlage so – man erinnere sich an Aschenbrödel als Jägerin im Wald –, aber dort ist das Happy End doch nur durch eine Traumhochzeit zu erreichen.

Und die böse Stiefmutter und -schwester? Die kommen natürlich auch vor. Es ist sehr zeitgemäß und assoziationsreich, wie die Regisseurin in einer Szene die Aschenputtels und die Tussis aufeinandertreffen lässt.

Astrid Priebs-Tröger

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