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Kultur: „Voller Wendepunkte und Identitätsbrüche“

Alexander Nerlich war in der vergangenen Saison bereits mit seinem „Urfaust“ aufgefallen – jetzt inszenierte er „Hamlet“. Am morgigen Freitag hat das Stück am Hans Otto Theater Premiere

Herr Nerlich, was für ein Mensch begegnet uns mit Hamlet?

Zuerst einmal sehe ich ihn als einen Menschen, der so voller Bereitschaft zum Zweifel, voller Gefühl, voller Brüche, voller Zutrauen, voller Misstrauen, voller innerer Widersprüche, so voller paradoxer Gedanken ist, dass es schwer ist, ihn überhaupt zu umgrenzen. Wobei sich hier gleich die Frage stellt, ob man das tun muss? Hamlet trauert und ist so von Anfang an in einer Extremsituation. Darüber hinaus würde ich ihn als einen Menschen beschreiben, in dessen Verhalten sich die Bereitschaft findet, sowohl die Widersprüche einzugehen, als auch sich darin zu verlieren.

Wie nähern Sie sich als Regisseur einer solchen widersprüchlichen und schwer zu fassenden Figur?

Natürlich ist es für mich nicht einfach, die gedankliche Tragweite dessen, was im „Hamlet“ gesprochen wird, voll und ganz auszuloten, zu erfassen und auf die Bühne zu bringen. Als Regisseur muss man sich ja immer entscheiden, wo man die Schwerpunkte setzt. Aber ich empfinde die schon erwähnte Widersprüchlichkeit und das Denken in Paradoxien und Irrwegen als eine Einladung, „Hamlet“ als ein Spiel voller Wendepunkte und Identitätsbrüche zu inszenieren. Vor allem nähere ich mich dieser Figur über den Text, das, was er sagt und möglicherweise unternehmen könnte in der jeweiligen Situation. Dann, und das geht bei diesem Stück natürlich gar nicht anders, ziehe ich auch Sekundärliteratur zu Rate. Allein schon wegen der vielen Anspielungen und Tricks, die Shakespeares Sprache beinhaltet. Was ich dabei aber immer suche und versuche, ist das nicht stringente Verhalten der Figuren, das Stolpern, das Scheitern von Strategien, dann dem virtuosen Angriff, einem ganz unerbittlichen Verhalten, gegenüberzustellen. Hier also eine Abwechslung zu schaffen, sodass jeder Moment etwas Neues bringt. Brüche, Wendepunkte, da ist „Hamlet“ ja so voll von, dass man sich dieser Figur auch intuitiv über das Machen, von Szene zu Szene, zusammen mit den Schauspielern nähern kann. Also nicht nur über Theorie, sondern über das Spiel, wohin uns der Zickzack-Kurs der Figuren führt. Und das gilt für alle Figuren, denn sie sind alle genauso tapsig, wie sie auch unheimlich geschickt im Manipulieren sind.

Wobei Hamlet in diesem Spiel doch der größte Künstler ist, weil wir irgendwann nicht mehr wissen, was ist gespielt und was nicht.

Ja, denn Hamlet lernt sehr schnell, darin besser zu werden und das alles auszuhalten. Er kann so unglaublich tapsig sein und im nächsten Moment der virtuose Manipulierer. Denn er hat eine Mission und einen besonderen Lehrmeister: den Geist seines toten Vaters.

Wenn Sie sagen, Hamlet ist schwer zu fassen, wie würden Sie dann seine Monologe in diesem Stück bezeichnen? Öffnet er sich da nicht für den Zuschauer? Sind da nicht Momente von Klarheit in seinem Entwicklungsprozess zu erleben?

Wir können in diesen Momenten direkt in seinen Kopf reingehen. Der ja von Hamlet selbst als Globe, als Bühne, bezeichnet wird. Der gleichzeitig das Ich, die Identität und der Spiegel der Welt ist. Aber auch wenn wir in bestimmten Momenten einen tiefen Einblick bekommen, bleibt doch die spannende Frage, wer bei diesen Monologen mithört? Wer soll mithören? Gibt es nicht doch einen Ansprechpartner? Oder vielleicht spricht er hier mit jemandem, mit dem er nicht mehr sprechen kann?

Sie meinen den Geist seines Vaters?

Ja, ist der vielleicht irgendwie in ihm anwesend? Und was sagt Hamlet und was sagt er nicht? Was wiederholt er gebetsmühlenartig? Und ab wann adressiert er vielleicht das Publikum, wenn er erkannt hat, dass er sich eigentlich in einem Theater befindet? Was ja dann die Welt hinter den Spiegeln ist, hinter die er beschließt zu treten. Wenn dann alles nur noch ein Spiel ist, darf er auch mit dem Publikum kommunizieren. Es gibt also die unterschiedlichsten Möglichkeiten, Adressaten zu finden für diese inneren Auseinandersetzungen. Und diese Monologe haben oft einen so tollen szenischen Vorlauf, dass man als Zuschauer da förmlich hineingeschossen wird, dass man sie auch als eine Art Nachhall der Ereignisse begreifen kann. Wir begleiten hier einen Menschen auf dem Wege der Selbstbeeinflussung und der Selbstschulung. Eine Methode Hamlets also, sich zu einer Kunstfigur, einem Theaterspieler, einem stillen Killer und vielleicht sogar auch zu einem tragischen Helden auszubilden. Dafür muss er aber all das Unwichtige aus seinem inneren Globe wegwischen, sich freimachen von Belanglosigkeiten.

Eine Form der Selbstaufgabe?

Die Monologe zeigen eine gnadenlose Selbstbespiegelung. Sie sind ein Zeichen dafür, dass Hamlet beginnt, sich selbst zu beobachten, weil er sich inszeniert, programmiert und schult, um ein anderer zu sein.

Über Hamlets Motivation wurde und wird immer wieder diskutiert. Manche sagen, Hamlet sei ein Zögernder, weil er zu viel nachdenkt. Friedrich Nietzsche dagegen beschreibt Hamlet als einen Menschen, der in das Wesen der Dinge geblickt und erkannt hat, dass er hier nichts ändern kann. Nun ekelt es ihn zu handeln.

Das ist für uns nicht von Belang. Es gibt in diesem Stück einen Moment, in dem das zur Sprache kommt. Aber das ist nur ein Moment. Und jeder dieser Momente hat im „Hamlet“ seine eigene Wahrheit. Insofern ist das nicht der Schlüssel zum Verständnis der Figur Hamlet. Denn es gibt ja viele Erkenntnisse in diesem Stück. Die meiner Meinung nach entscheidende ist die, dass er den Schutz der eigenen Person, den Glauben an einen sinnvollen Fortschritt der Ereignisse, das Planen aufgeben und sich zum Spielball der Ereignisse machen muss. Das ist vielleicht das Beunruhigendste, dass erst durch diese Gleichgültigkeit eine Unberührbarkeit möglich wird, dass also die Leere der richtige Weg ist, um zu erfüllen, was erfüllt werden muss. Diese Erkenntnis beschäftigt uns auch jetzt, im Prozess der Endproben, noch sehr. Denn das bleibt ja letztendlich im Dunkeln: Was ist das, diese Grausamkeit, die die Figur am Schluss ja auszeichnet, wenn er acht Menschen auf dem Gewissen hat? Da zu sagen, Hamlet sei ein zögernder, ein nicht handelnder Mensch, kann mich nicht überzeugen. Denn Hamlet überwindet sein Zögern und beginnt dabei, sich in alle möglichen Richtungen zu entgrenzen.

Bis hin zum eigenen Tod?

Ja, Hamlet denkt sich hin zum Tod. Er experimentiert gedanklich mit Extremen und abgründigen Erkenntnissen wie Einblicken in die Sinnlosigkeit und die eigene Erbärmlichkeit. Damit kann er nicht aufhören. Dadurch ist das für uns eine Aktivität und kein durch zu viel Erkenntnis angekränkelter und erschöpfter Stillstand.

Die Gewalt, die Hamlet erlebt und auch selbst ausführt, ist für uns heute erschreckend. Aber gehörte sie für ihn als Königssohn in einer Zeit voller Kriege und Intrigen nicht zu etwas Erwartbarem und, zugespitzt ausgedrückt, auch zum Alltäglichen?

Gute Frage. Dafür müsste man viel tiefer in die Vorgeschichte Hamlets eindringen. Ich habe beim Lesen eher das Gefühl gehabt, dass er sich distanziert hat von dieser korrupten, politischen Kaste. Denn warum ist er weggegangen von seinem ach so geliebten Vater, der ja ein recht wilder Kriegsfürst war, und hat in Wittenberg studiert? Vielleicht wollte er keinen Krieg führen und nicht in einem dadurch isolierten Staat leben. Ich glaube nicht, dass er erwarten musste, dass sein Vater getötet wird. Aber vielleicht hat er es geahnt. Zumindest wird ihm nach der Tat einiges klarer. Aber diese Figur des archaischen Rächers, die ist er nicht von Anfang an. Um so zu werden, musste erst viel passieren.

Was Hamlet erlebt, was ihm passiert, wird dadurch sein anfangs gespielter Wahnsinn zu einem echten?

Das weiß Hamlet selbst nicht. Da kommt etwas in ihm hoch, das er benutzen und in seinem Spiel verstärken kann. Aber die Frage, was ist dabei wirklich wahnsinnig und was nicht, können auch wir nicht eindeutig beantworten. Es gibt mehrere Szenen, in denen er, wie er selbst sagt, ein wunderliches Wesen an den Tag legt. Aber es gibt genug Beispiele, in denen er sich nicht unter Kontrolle hat. Unter diesem Aspekt lässt sich sein Satz „Es könnte sein, dass ich merkwürdig werde“ auch ganz anders verstehen. Denn Hamlet sagt ja auch, bevor er überhaupt erfährt, dass andere diesen Geist gesehen haben, dass er seinen Vater sieht. Und vielleicht muss er das zulassen. Vielleicht ist die Katastrophe ja sein Element. Hamlet leidet am Tod seines Vaters, an der Ehe seiner Mutter mit seinem Onkel, er leidet an seinem aufkommenden Misstrauen gegenüber all seinen Bezugspersonen und macht darum ein großes Theater. Er nutzt die Bühnen, um zu entlarven und zu entdecken. Dafür muss er sich aber auch von allem freimachen. Und darum spielen wir auch auf einer leeren Bühne. Wenn, wie Hamlet sagt, er hinter die Spiegel zurücktritt, gelten neue Regeln. Wir erkennen uns dann als bloße Entwürfe, als hingeworfene Scheinwesen. Was dann auch einem Selbstverlust gleichkommt. Damit sind wir wieder bei der Anfangsfrage, was für ein Mensch Hamlet ist. Ein Mensch, der seine Konturen verliert, verlieren muss, das wird in diesem Stück beschrieben, daran arbeitet sich die Sprache ab und ist gleichzeitig Spiegel dieser Prozesse. Dabei muss Hamlet lernen, sich selbst zu spielen, ohne er selbst zu sein, weil er sonst zu manipulierbar für die anderen wird. Er muss etwas zurückhalten, muss unberechenbarer werden, muss lernen zu provozieren und zu schockieren. Er muss all die Rollen, in die er sein Leben künstlich zerteilt, eine nach der anderen kaputt spielen.

Hamlets großer Gegenspieler ist sein Onkel Claudius. Ist dieser Brudermörder und jetzige König in seinem ganzen Verhalten, in seinen Worten nicht schon längst an dem Punkt, an den Hamlet versucht zu gelangen? Ist Claudius nicht schon längst hinter die Spiegel getreten und hat sich von allem Überflüssigem, von aller Moral, von allen Skrupeln gelöst?

Das hat Claudius sehr genau verstanden. So benutzt er in seiner ersten Rede nicht einmal das Wort „ich“. Er spricht vom Wir und bezieht somit alle ein. So zeigt er sich als ein Liebender, als ein volksnaher Mensch. Es gibt bei ihm kein Ego. Alles, was er getan hat, das hat er für die große Sache, für Dänemark getan. Und im Grunde ist Claudius da sogar noch ein Stück weiter, weil er sich von der Maske löst und einfach ehrlich ist. Das lässt sich wunderbar mit der Textstelle „Leichenjubel und Hochzeitsklage“ belegen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Claudius hat über den Tod seines Bruders gejubelt, über die Hochzeit mit seiner Schwägerin geklagt. Mit diesem Paradox sagt er: Ich bin ein zerrissener Mensch. Amoral ist in diesem Fall einfach ehrlicher.

Das Gespräch führte Dirk Becker.

Die Premiere von „Hamlet“ am morgigen Freitag ist ausverkauft. Für die Vorstellung am Samstag, dem 31. Januar, um 19.30 Uhr im Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse gibt es noch Karten

Alexander Nerlich, geboren 1979 in Hamburg, studierte Regie an der Bayerischen Theaterakademie. Am Hans Otto Theater inszenierte er bisher „Jugend ohne Gott“ und „Urfaust“.

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