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Wer führt was im Schilde? Rotkäppchen auf Initiationsreise, Wolf auf Beutezug.

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Kultur: „Visionen nach einem Fliegenpilzritual“

Märchenerzählerin Silvia Ladewig über Rotkäppchens Reise in die Unterwelt und schamanische Kulte

Frau Ladewig, Sie sind anlässlich des diesjährigen 200. Jubiläums der Erstausgabe der Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen“ den Ursprüngen der Geschichten auf den Grund gegangen. Welche bösen Zwerge, blutrünstigen Wölfe oder liebreizenden Elfen werden dem Besucher Ihrer Sommerspecial-Erzählnacht am kommenden Freitag begegnen?

Bei mir gibt es hemmungslose Feen, psychoaktive Pilze und schamanische Kulte.

Von welchem Märchen sprechen Sie?

Vom Rotkäppchen, das ich neben „Tischlein deck dich“ und wahrscheinlich dem „Schneewittchen“ auf ganz eigene Weise erzählen werde.

Was steckt für Sie hinter dem Rotkäppchen?

Ganz wichtig ist die rote Kappe des Mädchens als Synonym für den Fliegenpilz. Es gibt in vielen Teilen der Welt einen Fliegenpilzkult, in dem Menschen gezielt getrocknete Fliegenpilze essen, um Visionen zu haben. Der Fliegenpilz ist längst nicht so giftig, wie es immer dargestellt wird. Man muss nur wissen, wie man ihn zubereitet. Inzwischen ist ja bekannt, dass schamanische Kulte viel mit psychedelischen Substanzen arbeiten, um Visionen und transpersonale Erlebnisse zu haben. Fliegenpilze, die ja heute noch als Glückspilze bezeichnet werden, gehören eben dazu.

Haben Sie auch schon welche probiert?

Nein. Meine Fantasie ist auch so lebhaft genug.

Und Rotkäppchen hat Ihrer Meinung nach daran genascht?

Rotkäppchen ist ein junges Mädchen, das über ein psychoaktives Fliegenpilzritual dahin geführt wird, dass es weiß, was es in seinem Leben wirklich will. Aber das klingt ganz unmärchenhaft. Andersherum kann man auch sagen: Sie macht eine Unterweltfahrt, in der sie stirbt und wieder aufersteht. Die Mutter sagt ja immer: „Rotkäppchen, komme nicht vom rechten Weg ab.“ Manchmal ist es aber wichtig, dass ein Kind vom Weg abgeht, dass es etwas sterben lässt, um neue Erfahrungen zu sammeln. Und Rotkäppchens Traum ist es zu reisen. Sie ist eine Seherin, eine Kräuterkundlerin, eine Volva, wie die Schamanen sagen.

Also sind in die gesammelten Märchen der Gebrüder Grimm auch schamanische Kulte eingeflossen?

Ich besitze inzwischen die dreibändige, bei Reclam erschienene Ausgabe der Gesammelten Werke. Im dritten Teil führen die Gebrüder Grimm alternative Versionen der Märchen auf. Auf einmal habe ich mich in meinen Forschungen bestätigt gesehen. Lange Zeit hatte ich mich nämlich vor diesen Märchen gedrückt, weil ich immer das Gefühl hatte, dass dahinter so viel mehr steckt. Ich empfand sie wie Bruchstücke, die von weither winken. Man kann sie ja auf ganz verschiedene Weise deuten, psychologisch oder auch astronomisch. Ich habe von einem Märchenforscher gehört, der deutet die „Sieben Geißlein“ so, dass der Wolf ein Sternzeichen ist und die sieben Geißlein als kleinere Sterne in diesem Wolf verschwinden.

Und welche Deutung bevorzugen Sie?

Die metaphysische, sage ich mal. Nicht alle Märchen sind so. Es gibt auch einfache Schwänke und Sagen. Aber einige Märchen sind für mich Geschichten, die Menschen in ihren Visionen gesehen haben. Das ist ein schamanischer Hintergrund. Wir haben ja, bevor das Christentum in Europa Fuß fasste, auch hier paganische und schamanische Kultformen gehabt. Und viele der Grimmschen Märchen besitzen einen Hintergrund, der sich darauf zurückführen lässt.

Können Sie das am Beispiel des Rotkäppchens etwas verdeutlichen?

Der Jäger ist meiner Meinung nach ein Überbleibsel von Odin oder Wotan, der aus dem germanisch-nordischen Bereich überliefert ist. Er ist der Anführer der wilden Jagd, der nachts mit seinen Kriegern auf Beutezug durch den Himmel streift. Aber es gibt noch eine, die ihm überlegen ist. Das ist die Großmutter. Die wir auch in Frau Holle haben. Sie ist die Göttin der Unterwelt, die im Winter die Herrschaft übernimmt und die toten Seelen bewacht, um ihnen im Frühjahr ein neues Leben zu ermöglichen. Die Großmutter, zu der das Rotkäppchen durch diesen dunklen Wald geht, ist in meinem Verständnis ein Wiedererscheinen dieser alten Totengöttin. Rotkäppchen erlebt eine Initiationsreise: Sie erfährt, wie ihr Leben von den Ahnen und Göttern gedacht wird. Und das Gefressenwerden durch den Wolf hat man auch in vielen schamanischen Märchen: Die Menschen werden zerlegt bis auf die Knochen und dann wieder zusammengefügt. Sie werden von den Geistern zu ihrem Dienste berufen.

Und Rotkäppchen ist dazu berufen, Kräutersammlerin zu werden?

Ja, diese ganz junge Frau, die gerade ihre erste Blutung bekommt, wird berufen, selbst Schamanin zu werden.

Und wie endet bei Ihnen das Rotkäppchen?

Natürlich geht es gut aus.

Auch das Schneewittchen?

Da stellte ich mir die Frage: Wer ist Schneewittchen? Für mich ist sie eine Fleisch gewordene Dryade. Dryaden sind Baumgeister. Und es gibt Geisterwesen, die wollen in die Welt der Menschen eintreten. In diesem Fall der Geist des Holunderbaums. Sie erinnern sich: Schneewittchen ist so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz. Und der Holunderbaum hat viele weiße Blüten, dass er aussieht, als wäre er von Schnee bedeckt. Dann fangen die Blüten an, rot zu werden und die Früchte sind schließlich schwarz. Der Holunderbaum steht seit altersher für den Eingang zur Unterwelt. Schneewittchen zieht ja auch den Tod ziemlich an: Der Jäger soll sie umbringen, die Stiefmutter will sie töten. Es ist immer so ein Spiel zwischen Leben und Tod. Aber auch sie geht gut aus. Haben Sie sich schon mal überlegt, wer bei „Tischlein deck dich“ eigentlich diese Ziege ist?

Die vor den hütenden Brüdern immer sagt: „Mä, mä mä, ich bin so satt, ich mag kein Blatt?“ Und wenn sie abends nach Hause kommt, dem Vater vorjammert: „Wie soll ich satt sein, ich musste nur springen über Gräbelein ... ?“ Nein. Keine Ahnung.

Warum glaubte der Vater der Ziege mehr als den eigenen Söhnen, die total brav sind und ihn unterstützen. Er wirft die Jungs einfach raus, weil die Ziege rumlügt. Das habe ich nie so richtig verstanden. Inzwischen denke ich, dass es auch hier einen schamanischen Hintergrund gibt. Die Ziege ist nur am Tag eine Ziege, nachts verwandelt sie sich in eine Art Dämon, in eine Fee, die wollüstig ist und den Vater voll im Griff hat.

Was brauchen Sie für Ihren Erzählabend in der Jurte im Volkspark, um das Tischlein zu decken? Gibt es Requisiten oder Rituale?

Ich könnte natürlich ein schamanisches Ritual machen: eine Reise mit Trommeln oder etwas in das Zelt hineinräuchern. Aber nein, ich werde nur erzählen. Vielleicht singe ich noch ein, zwei Balladen. „Es waren zwei Königskinder“ würde gut passen.

Was ist heute wichtig an den Märchen?

Da komme ich wieder auf die metaphysische Ebene zurück. Ich weiß, dass viele Menschen, wenn sie etwas von Spiritualität oder Religion hören, sofort an Kirche, Sekten oder verspinnerte Esoteriker denken. Für mich liegt da noch etwas dazwischen, was Märchen erzählen können. Da muss ich gar nicht großartig etwas über Mythen wissen. Aber wenn ich einen Baum ansehe, merke ich einfach, da fließt Lebenskraft. Und ob Käfer, Biene, ja selbst der Eichenprozessionsspinner, über den wir uns so aufregen, sie alle sind Lebewesen. Sie gehören zu uns. Ich sage es mal auf indianische Art: Wir sind alle miteinander verbunden, wir sind Brüder und Schwestern. Dieses alte Naturverständnis möchte ich gern wieder aktivieren. Dieses Wahrnehmen, dass es im Wald pilzig und feucht und nach Blättern riecht. Das hat auch spirituelle Kraft.

Was fordert Sie als Erzählerin bei Grimms Märchen anders heraus als vielleicht bei Hans Christian Andersen?

Ich habe das Gefühl, dass ich mich geistig noch mehr darauf einlassen muss. Als wenn ich selbst in eine Trance reingehe, um mich in dem Märchen zu bewegen, mich mit den Figuren zu unterhalten, um zu verstehen, was für mich fehlt. Das ist ein ganz eigener Schöpfungsprozess, durch den ich gehe. Gerade weil man meint, diese Märchen so gut zu kennen.

Das Gespräch führte Heidi Jäger

Grimmsche Märchen für Ausgewachsene mit der Erzählerin Silvia Ladewig am Freitag, dem 27. Juli um 20 Uhr, in der Jurte im Remisenpark im Volkspark Potsdam, Eintritt inclusive Parkgebühr 10,50/7,50 Euro

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