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Villa Schöningen: Ohne Halt

„Glasnost“ in der Villa Schöningen: Die Bilder der russischen Avantgarde aus den 1980er-Jahren zeichnen das Porträt einer wankenden Gesellschaft – vor und nach dem Systemwechsel

„In jedem Sammler steckt ein kleiner Exhibitionist“, hat Henri Nannen einmal gesagt. Der Mann wusste, wovon er sprach. Der 1996 verstorbene Journalist war ja nicht nur Gründer des bekannten Wochenmagazins „Stern“, sondern er hatte in den 1930er-Jahren in München auch Kunstgeschichte studiert und sammelte selbst Kunst, vor allem expressionistische. Als Kenner und Sammler hatte er bereits auf seinen Reisen in die Sowjetunion in den 1950er-Jahren, mitten im Kalten Krieg, ein Auge für die zeitgenössische Malerei, die dort entstand.

Mit dem „Sozialistischen Realismus“, den man ihm, dem West-Journalisten, von offizieller Seite präsentierte, konnte er wenig anfangen. Umso mehr dafür mit den expressiv gehaltenen, nonkonformistischen Arbeiten, die er in den frühen 80ern auf Galeriestreifzügen selbst entdeckte. Als er Ergebnisse dieser Streifzüge 1983 versuchsweise in dem norddeutschen Städtchen Emden zeigte, war Nannen verblüfft von der Resonanz: Die Menschen kamen in Strömen, um zu sehen, was die sowjetischen Künstler zu sagen hatten. Ein paar Jahre später begann die Sowjetunion, sich mit Gorbatschow zu öffnen. Und Nannen stellte wieder aus: „Glasnost. Die neue Freiheit der sowjetischen Maler“ eröffnete im Herbst 1988 in Emden. Eine aufwühlende, hoffnungsvolle Zeit.

2016 sind die Zeiten gerade in Bezug auf das Land, das mal Sowjetunion hieß, andere. Statt der „Öffnung“, die Gorbatschow vor 30 Jahren wollte, weht heute ein anderer Geist durch Russland. Es sucht statt nach Demokratie wieder nach viel älteren, patriarchalen Strukturen. Wenn die Villa Schöningen also jetzt eine Ausstellung zu Glasnost-Kunst mit Bildern aus der Sammlung der Nannens zeigt, dann ist das durchaus ein politisches Statement – auch wenn Eske Nannen, Henri Nannens Ehefrau und Geschäftsführerin der Kunsthalle Emden, das so nicht benennen will. Muss sie auch nicht: Wer mit offenen Augen durch die Ausstellung in der Villa Schöningen geht, kann genauso gut selbst versuchen, den Abgleich des dort Gezeigten mit der heutigen Realität in Russland vorzunehmen.

Im ersten Raum begrüßen einen der Mäzen, der selbst ernannte „kleine Exhibitionist“, und dessen Gattin. Mit erhobener Braue, fragend, ein bisschen ironisch vielleicht, ein ermattetes Schmunzeln um die Mundwinkel: So hat der Moskauer Maler Maxim Kantor Henri Nannen in seinem Bild von 1988 festgehalten. Gleich daneben Eske Nannen aus dem gleichen Jahr. Im Halbprofil, die blauen Augen werfen einen ernsten, stechenden Blick am Betrachter vorbei. Immer wieder erzählen Widmungen des Künstlers auf Bildern und Radierungen in der Ausstellung von der Dankbarkeit den beiden Förderern gegenüber. Seit den 80er-Jahren verband die Nannens eine tiefe Freundschaft mit Maxim Kantor, diesem vielleicht angriffslustigsten und zugleich traurigsten der ausgestellten Künstler. Die Kunsthalle Emden wird ihm Anfang 2017 zum 60. Geburtstag eine Einzelausstellung schenken. „Ich male die Geschichte eines totalitären Staates“, schrieb Kantor in den 1980ern an Henri Nannen. „Ich will im Namen der sprechen, die nicht sprechen können.“

Welches Bild könnte das deutlicher illustrieren als „Gespräch zwischen den Taubstummen“ von 1985? Das horizontal in drei Teile gegliederte Triptychon zeigt vier Männer auf einer Bank. Oben sieht man die Köpfe: verschlossene Blicke, verschlossene Münder. In der Mitte die Hände: wild gestikulierend, expressiv, sehnig muskulös. Unten die schaurige Pointe: vier Paar bloße Füße in Pantoffeln, etwas verwahrlost, zur Untätigkeit verdammt. Man versteht, dass die vier im Hof einer Anstalt sitzen, aus der sie sich nicht wegbewegen werden. Der Aktionismus, von dem die Hände erzählen, bleibt zwischen den gelben Mauern im Hintergrund gefangen. Das satte Sonnenblumengelb erinnert übrigens, sicher kein Zufall, an van Gogh, wie auch das dunkle Blau der Mäntel. Auch van Gogh pendelte ja zwischen geistiger Umnachtung und lebensnaher Euphorie. Nur: Wahnsinnig sehen die hier internierten Männer nicht aus. Eher wie Intellektuelle. Was die Frage auftut: Schweigen sie, weil sie nicht reden können – oder es nicht dürfen?

Kantors Blick ist immer der Blick auf die, die am Rand der Gesellschaft taumeln. Dass mit dem mentalen Aufschwung, den Glasnost mit sich brachte, dieser Rand nicht verschwand, thematisiert seine Serie „Bistro“. Das gleichnamige Gemälde aus dem Jahr 1988 zeigt zwei schmale Trinker, die sich mit letzter Kraft am Stehtisch festzuhalten scheinen – ein Motiv, das Kantor in den 1990er-Jahren in Radierungen aufgenommen hat. Hier wie dort: kein Halt. Diktatur oder Raubtierkapitalismus: Das Elend für die Randständigen, sagen Kantors Arbeiten, blieb das gleiche. Auch andere Radierungen weisen darauf hin, dass dem politischen Wechsel alles andere als rosige Zeiten folgten: In „Korridor“ von 1991 halten sich zwei Menschen wie zwei Ertrinkende aneinander fest – um sie herum eine einstürzende Zimmerflucht.

Ähnlich bedrückend, aber farbgewaltig und viel wuchtiger ist der „Kristalline Mensch“ von Nikolaj W. Filatow (Jahrgang 1951) von 1987. Zwei Meter hoch, eher ungelenkes Monster als menschliches Wesen, scheint er dem Betrachter entgegenzuwanken: ein futuristisch anmutender Ritter. Gesichtslos, dafür mit großen klauenartigen Händen, breiten Schultern. Ein Krieger. Der Hintergrund ein rotgelbes Flammenmeer, man ahnt die Umrisse eines Sowjetsternes. Ist das die Menschmaschine, die die Sowjetunion als „neuen Menschen“ erträumte? Oder ein Monster, geboren aus dem Untergang der Sowjetunion? Der angedeutete vorgeschnallte Säbel würde auch auf das heutige Putin-Russland passen, das in kriegerischen Drohgebärden zu Hause ist. Was sich verbirgt hinterm heruntergelassenen Visier dieses Soldaten – man weiß es nicht.

Ähnlich aktuell sieht sich „Militärperson“ von Leonid A. Purygin (1951–1995). Das auf den ersten Blick humoristisch wirkende, 1988 entstandene Gemälde eines grün gewandeten Husaren auf weißem Pferd, rechts eine Pistole in der Hand und links einen Säbel, sieht mit ein bisschen Fantasie aus wie der karikierte Vorgänger des berühmten Fotos, das den Urlauber Wladimir Putin mit nacktem Oberkörper in Südsibirien zeigt. Putin ritt freilich lediglich über steiniges Geröll, die glatzköpfige „Militärperson“ von Purygin hingegen schwebt gespenstisch in einer Art Mondlandschaft. Unter den Kufen liegen abgetrennte Köpfe, auf dem erigierten Penis des Pferdes prangt ein roter Stern. Ein brachiales Bild. Und in seinem Thema, der Kritik an einer Kultur des kindlich-gefährlichen Säbelrasselns, fast 30 Jahre nach seinem Entstehen so wenig gestrig, dass es einem tatsächlich unheimlich wird.

Die Ausstellung „Glasnost“ läuft noch bis zum 26. Februar 2017, donnerstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr in der Villa Schöningen, Berliner Straße 86

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