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Angespuckt. Der isländische Performance-Künstler Ragnar Kjartansson lässt sich immer wieder von seiner Mutter anspucken.

© Ragnar Kjartansson

Kultur: Verwirrung stiften

Positionen der Kunst in dunklen Zeiten will eine Ausstellung im Kunsthaus Potsdam vermitteln

Mit Inbrunst spuckt die Frau dem jungen Mann ins Gesicht. Der Mann ist der isländische Performance-Künstler Ragnar Kjartansson. Die Frau ist seine Mutter. Für Avi Lubin fing damit alles an. Irgendwie. „Das Video wollte ich schon lange in einer meiner Ausstellungen zeigen, jetzt war der richtige Moment gekommen“, sagt er zur Eröffnung von „Circular Movements“ am Sonntag. Mit der Ausstellung versucht das Kunsthaus, sich in der Welt zu verorten: Sechs Künstler – aus der Schweiz, Island, Polen, Israel und Deutschland – zeigen hier, was Kunst in dunklen Zeiten – Krieg in Syrien, Flüchtende, heftige Umbrüche allerorten – sein kann. Was sie bewirken kann.

Müssen die Künstler erzählen oder aktiv handeln? Lubin, der den Studiengang Kunsttheorie am Beit Berl College in Israel leitet, bezieht sich auf Hannah Arendts Hauptwerk „Vom tätigen Leben“. Mit der Ausstellung im Kunsthaus knüpft er an seine Ausstellung „Dark Times“, die er 2015 in Israel kuratiert hat. Hier wie dort: Strukturiertes Chaos ist es, was er mit seinen Schauen erzeugen will. Es soll sich nicht gleich erschließen, ob und wie sich die einzelnen Arbeiten aufeinander beziehen. „Ich will, dass eine produktive Konfusion entsteht“, sagt er. Trotzdem wählt er nicht beliebig aus. Er kennt die Arbeit aller beteiligten Künstler seit Jahren, er hat die Essenz ihres Schaffens aufgesogen. „Wenn ich eine einzelne Arbeit hier austauschen wollte, musste ich auch bei den anderen nachjustieren.“ Kuratoren sind eben auch Künstler. Lubin sorgt dafür, dass ein Dialog entsteht – zwischen den Arbeiten, und zwischen den Betrachtern. Wichtig ist ihm: Erst durch Verwirrung entstehen Fragen.

Wie zum Video von Kjartansson. „Auf den ersten Blick wirkt es gewalttätig“, sagt Lubin. Dabei ist es eigentlich sehr poetisch. Seit vielen Jahren lässt sich Kjartansson immer wieder von seiner Mutter anspucken – als er sie das erste Mal darum bat, hat sie übrigens keinen Moment gezögert. „Etwas im Verhältnis der beiden hat sich in der Zeit aber total geändert“, sagt Lubin. Als sie anfingen, war sie als bekannte Schauspielerin die berühmtere von beiden. Inzwischen ist er als Künstler berühmter – aber neben ihr eben immer noch der schuldbewusst guckende Sohn.

Andere Arbeiten wirken dagegen auf den ersten Blick ganz leise. „Solche Dinge sind aber manchmal die viel gewalttätigeren“, sagt Lubin. Wie die Mauer, die Israel vom Westjordanland trennt. Weiß, lautlos. „Und doch total brutal.“ Oder die fast unscheinbare Skulptur von Miroslav Balka, der mit seinen Arbeiten immer wieder Stellung bezieht zur Geschichte Polens und zur Shoah. Zu Gewalt, die aus dem Nichtstun entsteht. Der kleine dreieckige Block aus Beton ist oben geöffnet, aus seinem Bauch dringt der Geruch von billigem Alkohol. „Das erinnert mich an den Moment zwischen Langeweile und Gewalt – ein super-gefährlicher Moment“, sagt Lubin. Umso länger man sich über den Beton-Bottich beugt, desto mehr Fragen drängen sich auf. Kunst soll nicht die Realität erklären, sich nicht einmal direkt auf sie beziehen. Sonst schafft sie nicht, was sie eigentlich soll: Das Bewusstsein öffnen für größere Zusammenhänge.

Manchmal hilft aber ein wenig Wissen weiter. Wie bei der Arbeit von Jenny Brokmann aus Berlin. Granitsteine liegen da übereinandergestapelt. Blaue Kabel verbinden sie mit einem unbekannten Ort, irgendwo draußen. Die reale Temperatur am Ursprungsort der Steine steuert über eine Hydraulik die Position der Steine. „Die Idee kam mir auf Island“, sagt Brokmann. Und durch die Erkenntnis, wie tiefgreifend das Wetter sich auf wirtschaftliche Entwicklungen und damit auch auf die Politik auswirkt. Dann ist da auch noch diese unglaubliche Chuzpe der Menschen, durch sogenanntes Geoengineering das Klima zu verändern. Nachdem Brokmann all das mit voller Begeisterung erzählt hat, guckt man nochmal auf die Gesteinsbrocken. Und hat plötzlich das Gefühl, einem weltweiten Beben zuzusehen. Auch wenn sich gar nichts bewegt. Es ist ein ähnliches Gefühl wie beim Blick in Balkas alkoholschwangere Skulptur.

Aufwühlendes behauptet auch Thomas Hirschhorn mit seiner wandgroßen Collage. Ein Mensch liegt da mit zersplittertem Schädel auf einer Bordsteinkante, andere stehen am Rande herum, die Gesichter verpixelt. Wichtige Menschen also, solche, deren Identität man schützen muss? Alles ist behauptet hier, es gibt keine Belege auf Authentizität. Die entgleitet einem hier, alle Sicherheiten geraten ins Wanken. Genau diese Verunsicherung will Lubin erzeugen. So fangen wir an, Fragen zu stellen – und am Ende vielleicht, zu begreifen. Anders als die Wissenschaft muss sich die Kunst ja immer verteidigen, weil sie keine allgemeingültigen Aussagen trifft. Dabei, sagt Lubin, werden in der Wissenschaft auch alle 20 Jahre so genannte Gewissheiten wieder über den Haufen geworfen. Die Kunst, die er vermitteln will, soll dafür sensibel machen, dass alles potenziell bebt.

Mit inneren Erschütterungen beschäftig sich Roey Heifetz in ihren collageartig gemalten Bildern. Es geht ihr um die Angst, die Kontrolle über den Körper und seine Funktionen zu verlieren. Auch hier steht man wieder da – vor zarten Schlieren und feinen Gesichtern – und erschauert. Ganz klar muss man sagen: Wer in den kommenden Wochen ins Kunsthaus geht, der erhascht nicht nur einen Blick in andere Gedanken – sondern in ganz neue Universen. Solche, die im Chaos entstehen. Dem Chaos, das entsteht, wenn wir uns trauen, alle Sicherheiten aufzugeben.

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