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Utopisch. Leyla, Karim und die Anderen entstehen dort, wo auch die Klischees zu diesen Namen wohnen: im eigenen Kopf.

© HL Böhme

Kultur: Verweile doch

Mit „Das schwarze Wasser“ in der Regie von Elias Perrig fragt das Hans Otto Theater zu seinem Spielzeitauftakt leise aber beharrlich nach Utopie

Die Zeit ist ein listiges Ding, gerade im Theater. Im besten Fall macht sie dort nie das, was man sonst von ihr erwartet: ebenmäßig dahinfließen. Fließt sie doch, folgt Minute auf Minute. Dann heißt das nichts Gutes – denn 60 gefühlte Minuten sind sehr viel, geschweige denn 120 oder 180. Dagegen saß man schon in stundenlangen Theaterabenden, die sich wie ein Lidschlag anfühlten. Oder, noch besser, in 75 Minuten tat sich eine Welt, eine kleine zeitlose Ewigkeit auf. Nach solchen Stücken verlässt man das Theater mit der Freude, dass der Abend noch jung ist. Gutes Theater weiß, dass es noch Anderes gibt als Theater. So war das am Freitagabend am Tiefen See.

Premiere hatte, zum Auftakt der neuen Spielzeit, „Das schwarze Wasser“ vom Erfolgsdramatiker Roland Schimmelpfennig. Er gehört in Deutschland zu den meistgespielten Gegenwartsautoren. Was erstaunlich ist, denn seine Texte sind oft kompliziert gebaute, surreale Konstrukte, schließen einander ausschließende Welten miteinander kurz. In „Wenn, dann. Was wir tun, wie und warum“ trifft die Werktätigen-Welt auf sadistische Märchenfiguren. Generell beschreibt Schimmelpfennig eher das Was und das Wie, und weniger das Warum der Zustände. Noch viel weniger das Wohin. Das trug ihm die Kritik ein, fatalistisch zu sein. Zumal man über die Zustände, die seine Stücken zeigen, immer auch lachen kann. Manchmal führt das dazu, dass man sie weglachen kann.

In „Das schwarze Wasser“ ist dem aber nicht so. Neun Jugendliche treffen hier nachts im einem Schwimmbad aufeinander. Es ist Sommer, man ist heimlich über den Zaun geklettert. Neun Jugendliche, bei Schimmelpfennig sind das zwei Welten: Frank, Cynthia, Kerstin, Freddi und Olli treffen auf Murat, Karim, Aishe und Leyla. Erst prügeln sie sich fast, streiten um das Platzrecht. Dann verstehen sie sich, gehen schwimmen, ziehen zusammen durch die Stadt, tanzen in einem schicken Club und essen, weniger schick, zusammen Döner. Später werden sogar Küsse ausgetauscht.

Eine Nacht lang absolvieren die beiden Welten ein ziemlich vorbildliches Austauschprogramm: Murat und Co. lernen die Viertel von Frank und Co. kennen und andersherum – und zwischendrin ist Zeit, um bei einer Flasche Raki das gemeinsame Projekt gehörig zu reflektieren: „aber / es existieren / keine parallelen Welten, / es gibt nur eine Welt / und einen Markt“, sagt Olli, zukünftiger Erbe eines Fleischimperiums, und daher „die Wurst“ genannt. Nein, einigen sie sich, es gibt nur die eine Welt, aber „die hat zwei Seiten“, ein Hybrid. Dann sind sie bei Gott, dabei, was bleibt, was wäre, wenn. Wenn Coca Cola ausstürbe, wenn man die Zeit anhalten könnte. Ach wenn. Verweile doch! Das sagen sie, auch wenn sie es anders sagen.

Die Zeit verweilt nicht. Sie drängt weiter. Gleichzeitig steht sie momentweise still. In „Das schwarze Wasser“ ist die Zeit ein Schnipsgummi, mit dem der Autor nach Lust und Laune spielt. Sekunden werden zu Minuten zerdehnt, dann innerhalb eines Satzes Jahrzehnte übersprungen. Schimmelpfennig macht das durch einen dramaturgischen Kniff: Textlich parallel zur nächtlichen Eskapade erzählt er, was 20 Jahre später aus den Jugendlichen und ihrer nächtlichen Utopie geworden sein wird. Bitter die Einsicht: nichts als eine Fußnote im Leben der Einzelnen. Die Wege sind vorgezeichnet und werden sich unvermeidbar wieder trennen, sagt das Stück, auch wenn man sich momentweise davon freiträumen kann.

Frank wird, wie sein Vater und dessen Vater, Minister. Leyla wird Kassiererin. Aus beider Liebe wird nichts. Kerstin wird Zahnärztin. Aisha ihre Sprechstundenhilfe. Alle werden älter und dicker. Ist das nun fatalistisch oder realistisch? Und wo führt das hin? „Das schwarze Wasser“ will, das zeigt es deutlich, ein Stück Gesellschaftskritik sein. Es beschreibt eine Welt, die sich an Klischees festhält und es auch weiter tun wird. Auswege zeigt es nicht. Bleibt nur der Traum von einer Welt „ohne Sprache, / ohne Vergangenheit“/ in der nichts zählt / als die Zeit, / die dir zum Atemholen bleibt“. Es ist ein starker, poetischer Text. Als politische Utopie dient er nicht; als Fingerzeig, wie im Theater mit einer üblen Realität umgegangen werden kann, durchaus.

Auf der Bühne, in der Regie von Elias Perrig, ist das vor allem ein ungemein konzentriertes, uneitles, szenisch zurückgenommenes und darstellerisch starkes Unterfangen, mit viel Luft für die poetische, manchmal auch komische Komponente des Textes. Keine Musik, außer ein paar auf der Bühne gesungene Fetzen von orientalischen Klängen oder vom Ensemble improvisierte Beats. Die Bühne: acht Stühle. So ineinander verschlungen wie die zeitlichen Ebenen sind auch die Figurenzuordnungen auf der Bühne. Es gibt sie nicht. Die sieben ausgeruht-spielwütigen Spieler – Larissa Aimée Breidbach (der Neuzugang im HOT), Marianna Linden (großartig als spitzlippig-bourgoise Mutter), Andrea Thelemann, Alexander Finkenwirth, Christoph Hohmann, Eddie Irle und Raphael Rubino (mit wunderbar gutgelaunt-süffisantem Abstand zum Text) –, schlüpfen wechselnd in die neun Rollen. Männer sprechen Frauen, Frauen Männer, die Jüngeren im Ensemble sprechen Eltern und Lehrer, die Älteren sprechen die Jugend. Das macht es nicht immer einfach, den verschiedenen erzählerischen Ebenen zu folgen, aber in seiner Loslösung von den repräsentativen Gepflogenheiten und Zwängen im Theater ist es stimulierend, vielleicht sogar wegweisend.

Auch im Text gibt es lediglich „einen Mann“, „eine Frau“, „einen anderen Mann“. Und darin steckt dann doch so etwas wie ein utopisches Moment: Denn so werden Leyla, Karim und die anderen nicht als repräsentative Figuren auf die Bühne gestellt, sondern entstehen dazwischen. Dort nämlich, wo auch die Klischees zu diesen Namen wohnen: im eigenen Kopf. An der politischen Sicht auf die Menschen und Dinge reibt sich das Hans Otto Theater mit diesem Spielzeitauftakt 2015/2016 jetzt auch, wie zuvor bereits das Berliner Maxim-Gorki-Theater. Und es braucht dafür keine 75 Minuten.

Wieder am 26. (19.30 Uhr) und 27. September (15 Uhr)

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