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Kultur: Verrückter Sammler

Das belgische Theater Agora eröffnet heute die „Spurensuche“ im T-Werk

Was macht man, wenn einem fast alles, was lieb und teuer war, abhanden gekommen ist? Viele verzweifeln, andere resignieren und noch mal andere schwelgen in Erinnerungen. Zu letzteren gehört Claude Caminski. Der Protagonist des Stückes „Der gute Hirte“ des belgischen Theaters Agora, das heute Abend im T-Werk gezeigt wird, ist Erzähler und Geräuschesammler. Und ein wenig „verrückt“. Was nicht heißt, dass man an seinen geistigen Fähigkeiten, wohl aber an seinem Verhalten, das nicht unbedingt der Norm entspricht, zweifeln kann. Das und noch anderes hat er mit Künstlern und Theaterleuten durchaus gemeinsam.

Claude Caminski, ein liebenswerter Kerl in Hochwasserhosen und mit aufgegelter Tolle, zieht von Stadt zu Stadt und erzählt die Geschichten vom „guten Hirten“. Dieser hat alles verloren: seine Schafe, seinen Esel, den Adler Winston und seine Freundin, die Sängerin. Doch Claude erweckt sie wieder zum Leben. Dabei helfen ihm die unzähligen Kassetten, die er in seinem großartigen selbstgebauten Gefährt aufbewahrt genauso wie der ausgestopfte Adler, der über allem schwebt. Und natürlich die Zuschauer. Denn die Inszenierung von Marcel Cremer bezieht das Publikum direkt ein. Für Cremer ist Theater „ein Rendezvous zwischen dem Zuschauer und dem Spieler zu einer vereinbarten Zeit an einem vereinbarten Ort“. Und so müssen einzelne Zuschauer schon mal das Geräusch eines knisternden Lagerfeuers „herstellen“ und andere werden direkt auf die Bühne gebeten. Das ist nicht nur für Kinder ab zwölf Jahren ein großer Spaß. Die skurrilen, oft tragischen Begebenheiten, die Claude auf der Bühne wieder erstehen lässt, haben zumeist eine doppelte Botschaft. Und noch einen Vorteil: Der Zuhörer kann (und sollte) sie weiterspinnen.

Damit bewegt sich das Theater Agora ästhetisch und dramaturgisch auf einem ziemlich ungewöhnlichen Weg für das Jugendtheater. Und steht nicht nur aus diesem Grund auf dem Spielplan des 9. Theatertreffens der freien Kinder- und Jugendtheater „Spurensuche“, das am vergangenen Wochenende mit dieser Inszenierung in Berlin eröffnet wurde.

Ab heute und bis zum Samstag werden sechs verschiedene Inszenierungen in Potsdam zu sehen sein. Darunter am Freitag auch das Seh-Hörspiel „Jugend ohne Gott“ vom renommierten Freiburger Theater im Marienbad nach dem Roman von Ödön von Horvath oder heute Vormittag vom Berliner Theater Strahl das Masken-Theater „Klasse, Klasse“ mit Musik vom deutschen Beatboxmeister Daniel Mandolini, der zur Eröffnungsveranstaltung bereits Zuhörer sämtlicher Altersklassen faszinierte.

Das gelingt auch dem Geschichtenerzähler Claude Caminski. Der nicht nur durch seine fulminante Sammellust beeindruckt, sondern vor allem durch die Ernsthaftigkeit und den Humor, mit denen er seine Geschichten erzählt. Phantasie, Besessenheit und Übertreibung bei „Rothschilds Tod“ oder „Die Kontrolleure“ inklusive.

Der 75-minütige Abend des Theaters Agora, das dem Potsdamer Publikum noch durch seine großartigen „Kreuzritter“ in Erinnerung sein dürfte, strapaziert nicht nur die Lachmuskeln, sondern lädt auch zur poetischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Theater“ ein und ist nicht nur aus diesem Grund jüngeren und auch reiferen Zuschauern ans Herz zu legen. Astrid Priebs-Tröger

„Der gute Hirte" heute um 20.30 Uhr im T-Werk. Das gesamte Spurensuche-Programm ist unter www.theater-strahl.de zu finden.

Astrid Priebs-Tröger

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