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Stimmen, Morgendunst und Regenwände. Derevo mit „Ketzal II“ in der „fabrik.

© Krymskaya

Kultur: Verlorene Arche

Derevo zeigte „Ketzal II“ als Voraufführung in der „fabrik“

Der namensgebende Vogel Quetzal tauchte nirgends auf. Doch in grünes oder rotes Licht – den Hauptfarben des legendären guatemaltekischen Wappentieres – war die Bühne der „fabrik“ mehrmals getaucht, als am Wochenende die russisch-deutsche Tanzcompanie Derevo ihre neueste Inszenierung „Ketzal II“ präsentierte. Ihr Stück, das den Untertitel „Noahs Ark“ trägt, schließt an eine der erfolgreichsten Produktionen des Ensembles unter der Leitung von Anton Adassinsky an, das seit vielen Jahren in Dresden zu Hause ist. Über „Ketzal“ von 2005 schrieb Derevo selbst, dass es ein Stück sei „über Stimmen, Morgendunst, Regenwände und davon, wie einfach alles vor dem Vorher war“.

Stimmen, Morgendunst und Regenwände waren auch am Freitagabend in der wiederum sehr kunstvollen, jedoch linear nicht nacherzählbaren Aufführung zu sehen und zu hören. Ja, sogar zu spüren, denn die schwarze Erde roch, die Regenfeuchte zog langsam in den Zuschauerraum und der Bühnennebel und die Wärme taten das Übrige für einen fast alle Sinne einbeziehenden Abend. In der effektvoll beleuchteten imposanten Kulisse von Elena Yarovaya und Igor Fomin, die sowohl (Regen-)Wald als auch Gebirge, Höhle oder Strand verkörpern konnte, sah man sofort noch etwas anderes: das nackte Gerippe eines kleinen Bootes schon halb in der Erdschicht versunken, die auch den ganzen übrigen Bühnenboden bedeckte.

Diese entkernte Arche wirkte anfangs wie ein stummes Menetekel. Ein unheilverkündendes Zeichen wie die geschlechtsneutrale und alterslose Figur, die mit ihrem fahlen Pferdeschädelkopf, dem braunen Fellmantel und Müllsäcken in den Händen immer wieder im Halbdunkel auftauchte. Dieses Wesen trieb einen in die widersprüchlichsten Gefühle, wenn es sich in der Arche mit seinen Habseligkeiten zur Ruhe bettete. Mitleid, Ohnmacht, Abscheu, aber auch Endzeit, im Sinne von die Natur nimmt alles zurück.

Dieser Pferdemensch wirkte, wie auch die unzähligen anderen, von den Darstellern Anton Adassinsky, Makhina Dzhuraeva, Anastasia Ponomareva, Pavel Alekhin und Oleg Zhukowsky verkörperten (Fantasie-)Gestalten, äußerlich wie ein Zwitterwesen. Nicht Tier, nicht Mensch, märchenhaft und schäbig, männlich und weiblich zugleich. Und: unendlich einsam. Doch einmal, als die Geräusche eines fahrenden Zuges diese abgelegene Gegend erreichen, kommt so etwas wie Erregung in ihm auf. Und als die Insassen dieses imaginären Zuges leere Flaschen und Büchsen hinauswerfen, sammelt es sie ein. Aber man kann nicht spüren, welches seine Gefühlslage dabei ist.

Es gibt, wie in vielen anderen Momenten der Inszenierung, nur simultane Wahrheiten: Morbidität neben Transzendenz, Umnachtung neben Erleuchtung. Und einen subtilen Humor, der nicht nur in den Clowns oder dem Regenbogenflieger seinen Ausdruck findet, sondern beispielsweise auch in den vier Anzugträgern, die mit den grünen Blättern im Mund sich alsbald in eine Horde ihrer affenartigen Vorfahren verwandeln und ausgelassen-aggressiv über den Waldboden toben. Als später genau solche kahlköpfigen Anzugträger auf dem gefühlten Höhepunkt der 100-minütigen Inszenierung langsam ihrer Kleidung verlustig gehen und nahezu nackt in einen Reigen auf allen Vieren geraten, lässt die Verknäuelung ihrer mageren Leiber neben starker schöner Körperlichkeit auch Assoziationen zu schreckenserregenden Bilder vergangenen und gegenwärtigen Kriegsgrauens vor dem inneren Auge des Betrachters aufsteigen. Und man fühlt sich bei diesen und anderen, oft skurrilen Bildsequenzen sowie der zumeist bizarren Ausstattung der Figuren mehrfach an die mittelalterlichen Bildwelten eines Hieronymus Bosch erinnert.

Wie dieser malende Chronist des ausgehenden Mittelalters bildet auch Derevo Innenwelten ab, die Ängste, Fantasien und auch Sehnsüchte des heutigen Menschen spiegeln. Wie beispielsweise die, ob der Mensch alles Überflüssige aus seinem Leben werfen und wieder Teil einer ganzheitlichen Welt werden kann. Der Regen am Ende der Inszenierung wäscht alles rein und verwandelt den Boden dabei gleichzeitig in Morast. Zurück bleiben fünf außergewöhnliche Darsteller an der verlorenen Arche, die, sollte ein Wunder geschehen, auch wieder neu austreiben könnte.

Der dicht gewebte Sound von Daniel Williams, der, psychologisch ausgeklügelt, Natürlichkeit (Tiergeräusche), Künstlichkeit (Maschinentöne) sowie Musik und Stimmen miteinander verschmolz, legte sich wie ein Teppich über das traumwandlerische Geschehen. Am Ende brauchte das Publikum eine Weile, um aus diesen ‚verrückten‘ Seelenwelten wieder aufzutauchen, und zollte am Freitagabend, etwas verhalten zwar, anhaltenden Beifall.

Astrid Priebs-Tröger

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