zum Hauptinhalt

Urfaust-Premiere im HOT: Unerwartete Sterbehilfe

Alexander Nerlich schickt in seinem „Urfaust“ den Faust doppelt ins Spiel. Eine Premiere, die nicht ganz hält, was sie verspricht

Diesem Mann glaubt man gerne, dass er – pardon – die Schnauze voll hat. Sitzt eingeklemmt hinter einem Schreibtisch in einem fast leeren Raum, erhellt nur von einer Neonröhre, die ausgerechnet das, was ihn am meisten abstößt, noch ausleuchtet: seine Bücher. Wenn er eins aufklappt, vorsichtig, mit spitzen Fingern, dann ratscht ihm das Geräusch von zerrissenen Seiten um die Ohren – als wäre jedes gelesene Wort ohnehin nur für den Schredder gut. Und doch klappt der Mann immer wieder die Buchdeckel auf, blättert mal eine Seite um oder zwei. Wie es dabei akustisch verstärkt raschelt und knistert, das erinnert an die Geräusche, die Wale unter Wasser machen, um einander zu rufen. Die ozeanische Stille, die da unten herrscht, wird so noch größer. So ähnlich ist das bei diesem Mann, dem Potsdamer Faust: Die Antwort, die aus seinen Büchern nicht kommt, wird noch präsenter, je mehr er in ihnen blättert. Seine Einsamkeit noch spürbarer.

Überhaupt hat der lichtdicht verschlossene Raum, in dem sich dieser Faust verbarrikadiert hat, etwas von einem U-Boot. Oder doch Büro, Bunker, Büro-Bunker? Die Bühne, die Wolfgang Menardi gebaut hat, darf man getrost als Spiegel von Faustens Seele verstehen: betongraue Wände, betongrauer Boden. Rechts immerhin ein Waschbecken und darüber ein Spiegel. Was Faust darin findet, macht es jedoch nicht besser, eher im Gegenteil. Doch dazu gleich. Irgendwo klingelt derweil ein Handy, unbeantwortet. Irgendwo anders stöhnt dumpf eine Frau. Kaum hörbar, aber eben nur kaum, quietscht dazu ein Bettgestell. Dem kann man nachlauschen, das Ohr am Boden, aber auch das macht es nicht besser. Der Wal-Effekt eben.

Zum Glück ist dieser Faust, gespielt von René Schwittay, kein vergrämter Faust. Er ist müde, verbraucht, aber nur nach außen hin kraftlos. Er hat keinen Burnout, sondern eben eher die Schnauze voll. Sein „Habe nun ach“ ist weniger ein „Ach“ als ein „Habe nun“. Dieser Faust hat einiges hinter sich, aber Selbstmitleid hat er nicht. Er ist fertig, aber noch nicht am Ende. Dafür schleudert er die verbeulte Aktentasche noch mit zu viel Wut von sich. Eher ist er ein von Panik Getriebener, und hier kommt der bereits erwähnte Spiegel ins Spiel. Denn was diesen Faust treibt, ist nicht nur die Sehnsucht nach einem bunten „Jenseits-der-grauen-Mauern“. Es ist auch der Horror vor dem, der da im Spiegel die eigenen Bewegungen imitiert, der immer schon da ist, wenn man sich nach ihm umdreht. Einer, der Faust seine Textzeilen klaut oder sie zu Ende spricht, obwohl das doch eigentlich ein Monolog sein soll. Genau darum aber geht es. Faust, so viel dürfte bis hierhin deutlich geworden sein, ist in der Inszenierung von Alexander Nerlich kein an zu viel Wissen erkrankter Weltenweiser. Eher ein von schizoiden Störungen geschüttelter, einsamkeitskranker Akademiker. Faust ist hier zwei. Der am Leben Hängende und der andere (Böse?). Sein Spiegelbild, das nur darauf wartet, die Führung zu übernehmen.

Natürlich hat dieses Spiegelbild im „Urfaust“ einen Namen (Mephisto), und natürlich ist der Gedanke, die beiden als, nun ja, zwei Seelen einer Brust zu zeigen, nicht neu. Aber das Bild, das Alexander Nerlich am Anfang findet, um zu zeigen, wie untrennbar die beiden tatsächlich ineinander verknotet sind, das ist bestechend. Schon lange, bevor Mephisto (Holger Bülow) seinen Auftritt hat, ist er als gleich gekleideter Doppelgänger Fausts hinter einem halbtransparenten Vorhang zu erkennen. Als Faust noch nach den Naturgeistern ruft, ist Mephisto schon längst da. Und dieser Mephisto ist nicht da, um Faust in lebendigere Gefilde zu führen. Dafür ist er zu sehr Teil von ihm. Dieser Mephisto tritt auf, um Faust beim Sterben zu helfen.

Sie werden es bemerkt haben, wir sind immer noch in der ersten Szene. Warum? Weil es eine hervorragende Szene ist, und weil der Rest des Abends das Versprechen dieser ersten Szene nicht halten kann. Was großartig, konzentriert und konsequent beginnt, zerschmilzt danach in ein Zuviel aus Musikalischem, Kostümwechseln (Mephisto) sowie einigen gern wiederholt verwendeten Regieeinfällen. Es mag noch konsequent sein, dass Mephistos erste Amtshandlung ein Schuss ist, in den Schädel Fausts. Der herbeigeredete Selbstmord – Mephisto verhindert ihn nicht, er zieht ihn durch. Dann aber wird der Studier- zum Obduktionstisch, Mephisto nimmt Faust das Herz heraus, sehr zum Schrecken des wissensdurstigen Studenten (Eddie Irle). Überhaupt kann Mephisto, der bei Holger Bülow eigentlich ein charmant-geschmeidiger Selbstironiker ist, Blutiges gut leiden. In Auerbachs Keller wird später das Nasenblut einer der Studenten verköstigt.

Blut ist eines der Motive an diesem Abend, Videosequenzen (der Schatten Mephistos in arkadischer Landschaft, Grete in ihrem leeren Zimmer) ein zweites. Lieder sind ein drittes. Meike Finck als Marthe Schwertlein singt das erste Lied, platinblond, lasziv, ihrem Sektglas entgegen; später folgen Valentin (Friedemann Eckert) und der Student (Eddie Irle). Ein viertes Motiv sind die gern und viel ausgetauschten Küsse: Marthe Schwertlein und Grete, Grete und Faust, Marthe und Mephisto, Faust und Mephisto – aber irgendwie will sich, außer bei Letzteren, eine wirklich Leidenschaft nicht so richtig einstellen. Dabei ist Zora Klostermanns Grete ein vor unerfülltem Begehren schwelender Vulkan, gerade so zusammengehalten von der hochgeknöpften Bluse und dem Faltenrock, eine die heimlich Liegestütze macht, sich nachts aus dem Fenster davonstiehlt und Faust zeigt, wo er sie küssen soll. „Meine Ruh ist hin“ ist keine Klage, es ist ein Lustschrei. Dass so eine dann einen Striptease hinlegen muss, um auch kostümmäßig am Ende so „wahnsinnig“ auszusehen, wie es die Theaterkonvention gerne hat, macht die Figur schwächer, als sie ist.

Mehr als für Fausts Lust auf Grete – sie bleibt so zufällig wie im Text – interessiert sich die Regie für die Hassliebe zwischen Faust und seinem Spiegelbild Mephisto. Es sind die Szenen zwischen den beiden, die funktionieren, die ausscheren, auch zärtlich sind, die die Kraft des Anfangs wieder ahnen lassen. Der schwebende, unentschiedene Schluss ist so ein Moment. Da liegt Faust wieder am Boden, blutig. Mephisto sitzt, die Beine überschlagen, und liest wie Faust zu Beginn in einem dicken Buch. Ein Rollentausch. Kein teuflischer, kein göttlicher Triumph steht hier am Ende. Stattdessen, lakonischer, naiver, komplizierter, eine Frage. Lesen oder Sterben? Alexander Nerlichs Faust hat sie für sich beantwortet. Sein zweiter Faust, Mephisto, reicht sie weiter.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false