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Uraufführung am Theaterschiff: Was passiert, wenn es still bleibt?

Kein Seemannsgarn: Mit der Uraufführung von „Der alte Mann und die Zeit“ gelingt Martina König auf dem Potsdamer Theaterschiff ein berührend aktuelles Dokumentartheaterstück, das die Ohnmacht gegenüber rechtspopulistischer Entwicklungen im Land thematisiert. 

Finster ist der Traum, der Havelschiffer Horst Rüder unter Deck heimsucht. Unheimliche Stimmen durchziehen seinen Kahn „Sturmvogel“, es ist ein Gewirr aus politischen Hetzreden gegen Juden, gegen Muslime, aus der Nazizeit, aus der Jetztzeit, dazu Musik wie aus einem Gruselfilm. 

Düster beginnt am Samstag die Premiere von „Der alte Mann und die Zeit“ im fast voll besetzten Theaterschiff. Als die Scheinwerfer schließlich die Bühne erhellen, knotet Rüder, gespielt von Dietmar Nieder, Taue. Seemannsgarn? Nein. Der Zuschauer erahnt es: Es werden Henkersknoten. Zwar wirkt die Szene surreal - die Stimmcollagen aber sind echt, es handelt sich um Tondokumente aus deutschen Archiven. Shoa und Hetzreden in Deutschland im Jahr 2018 sind nicht nur ein böser Traum. 

Potsdams Publikum schätzt die Schönheit der Stadt. Auch die Geschichte?

Ganz still ist es auf den Sitzen, Zeit für frische Luft, findet Rüder, und führt das Publikum an Deck. Bekanntlich sind sich die Potsdamer ja der Schönheit ihrer Stadt ihren Schlössern und Seen sehr bewusst. Aber kennt auch jeder die Weltgeschichte, die den Kahn in der Schiffbauergasse umgibt? Nicht weit weg sind das Haus der Wannseekonferenz, wo 1942 die Deportation und Ermordung der europäischen Juden von hochrangigen Vertretern des Dritten Reiches besprochen wurde und das Schloss Cecilienhof, in dem die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs unter anderem die Teilung Deutschlands besiegelt haben. Rüders Eltern erlebten beides, erfährt der Zuschauer, und immerzu hätten sie ihren Sohn zur kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Geschehnissen ermutigt. Immer wieder habe den Vater aufgeregt, dass es am Ende des Zweiten Weltkrieges und nach der Wende 1989 „plötzlich nur noch Opfer“ und keine Täter gegeben habe. 

Das treibt Rüder angesichts des Rechtsrucks in Europa um. Wie konnte es etwa zu den Ereignissen in Chemnitz kommen, nach allem, was die Geschichte bereithält? Regisseurin Martina König findet eine der Antworten in einem poetischen Bild: Da fällt eines Tages der kleine Koffer von Mutter Rüder mit über den Krieg geretteten (Deutschland-)Gedichten von Heinrich Heine und der Geschichte vom ewig ungerecht behandelten Michael Kolhaas von Heinrich von Kleist in die Havel und schwimmt davon. Im Kopf habe er sie zwar noch, sagt Rüder. Doch keine Kinder, denen er sie erzählten könnte. Wie ein „Fossil“ fühle er sich, sagt er irgendwann, einsam mit seiner Geschichte, mit seinen Geschichten. 

Was tun? In eine Talkshow gehen, eine Rede halten?

Zwei Kapitel gibt es im Stück, die „Was tun?“ heißen, eines am Anfang, eines am Ende. Soll Rüder im Bundestag eine Rede halten? Oder sich in einer Talkshow Luft machen? Irgendetwas muss ja passieren. „Ich bin besorgt“, beginnt er eine Übung dafür, bricht aber mit „ach, nee“ wieder ab. Er sei ja auch kein guter Redner.

Martina König gelingt ein berührend aktuelles Dokumentar-Theaterstück, das die Ohnmacht gegenüber rechtspopulistischen Entwicklungen im Land thematisiert. Muten dabei die geschichtserklärenden Züge auf den ersten Blick didaktisch an, so tun sie doch auch gut, denn der Zeigefinger bleibt unausgestreckt. Im Fokus steht das Nichtvergessen, steht die Suche nach einem Umgang mit dieser Ohnmacht.

Zwar plagen den alte Rüder am Ende des Stücks wieder die vielen Stimmen aus der Geschichte und dem Jetzt. Doch diesmal beendet er sie mit einem Fingerschnippen. „Ich misch mich ein“, sagt er, „überall“. Und wenn schon nicht im Bundestag, dann eben im Supermarkt oder beim Bäcker. Was es bewirkt, mag sich der Zuschauer sofort fragen. Um sich eventuell selbst zu antworten: Nun, vielleicht ist das nicht die entscheidende Frage. Denn was passiert, wenn es ganz und gar still bleibt?

Andrea Lütkewitz

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