zum Hauptinhalt

Kultur: Unsagbares in Worte fassen

Der Sinto Hugo Höllenreiner in der Stadt- und Landesbibliothek

Was für ein Name: Hugo Adolf Höllenreiner. Der Sinto kam am 15. September 1933 in München zur Welt. Seine Mutter Sofie gab ihm zwei Vornamen, so als ob sie damals ahnen konnte, was kommen würde. „Adolf“ sollte den Jungen vor dem Schlimmsten bewahren. Was das in seinem Leben war, erzählte der heute über 70-jährige Höllenreiner am Montag vor Jugendlichen der Potsdamer Voltaire Gesamtschule und des Kleinmachnower Maxim-Gorki-Gymnasiums in der Stadt- und Landesbibliothek.

Mehr als fünf Jahrzehnte hat es gedauert, bis der groß gewachsene weißhaarige Mann über das reden konnte, was ihm als Kind in den zwei Jahren zwischen dem 8. März 1943 und dem 15. April 1945 widerfahren ist.

Als er, seine Eltern und Geschwister und zahlreiche Verwandte der alteingesessenen Sinti-Familie in München in den frühen Morgenstunden von der Polizei abgeholt und wenig später nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden und nach einer opfer-reichen Odyssee im Lager Bergen-Belsen die Befreiung durch britische Truppen nur im letzten Moment erlebten.

Was dazwischen lag, machte aus dem damals Neunjährigen einen um viele Jahrzehnte älteren Erwachsenen. Höllenreiner beginnt leise aber stetig zu erzählen: Zuerst von den kleinen, doch schmerzlichen Schikanen durch die ehemaligen Freunde in der Schule, die er, kaum, dass er die zweite Klasse abgeschlossen hatte, urplötzlich verlassen musste. Um dann mit Kinderaugen unerträgliche Demütigungen, grausamste Folterungen und schließlich unzählige Ermordete zu sehen.

Gemeinsam mit dem Bruder Manfred und anderen Kindern späht er durch Ritzen und blinde Fenster und sieht unvorstellbares Leid. Aber nicht nur das, er erleidet und überlebt „medizinische“ Menschenversuche durch den berüchtigten KZ-Arzt Mengele. Und er kann sich daran erinnern, als seien sie ihm gestern widerfahren. Höllenreiner beschreibt kleinste Einzelheiten der verschiedenen Lager, ruft sich Gerüche und Geräusche ins Gedächtnis zurück und kann das Unsagbare auch an diesem Vormittag in der Bibliothek in äußerst bewegende Worte fassen. Wie ein Film läuft das lange Verdrängte in anderthalb Stunden vor den beinahe atemlos lauschenden Jugendlichen ab.

Dass er das jetzt kann, verdankt er nicht nur seinem eigenen unerschütterlichen Mut, sondern auch der Berliner Schriftstellerin und Journalistin Anja Tuckermann. Mit ihr gemeinsam hat er sich 2003, nachdem er mehr als ein halbes Jahrhundert später wieder in Bergen-Belsen war, daran gewagt, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Zwei Jahre hat die 1961 geborene Autorin dazu gebraucht, weil beide manchmal monatelang die Arbeit unterbrechen mussten, um das Gehörte auszuhalten und das Gesagte zu verarbeiten.

Entstanden ist ein sehr bewegendes Zeitzeugendokument, das sowohl die unerträgliche Grausamkeit von Menschen als auch die aufopfernde Liebe seiner Eltern und die väterliche Fürsorge des russischen Gefangenen Igor ihm gegenüber widerspiegelt. „Denk nicht, wir bleiben hier!“ ist der Titel des entstandenen Buches, das für den Jugendliteraturpreis 2006 nominiert wurde. Es war auch vielleicht der wichtigste Satz in Hugo Höllenreiners Leben. Gesagt wurde er von seiner wunderbaren lebensklugen Mutter zu Beginn der Deportation, die ihm damit wahrscheinlich das Überleben in dieser unsäglichen Hölle ermöglicht hat.

Veranstaltet wurde dieses Zeitzeugengespräch im Rahmen von „Potsdam bekennt Farbe!“ unter anderen vom Friedrich Bödecker–Kreis. Es fiel allen Zuhörern sichtlich schwer, danach einfach wieder zur „Tagesordnung“ überzugehen.

Im Rahmen seiner Lesereise ist Hugo Höllenreiner am 29. Juni um 18.00 Uhr in der Seniorenfreizeitstätte „Sternzeichen“ zu Gast.

Astrid Priebs-Tröger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false