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Kleine Vögel und das große Vögeln. Um menschliche Psyche und emotionale Intelligenz geht es in „Die Empfindsamkeit der Giganten“.

© promo

Unidram Potsdam: Unberechenbares Figurentheater

Das Theater Wilde & Vogel war bei Unidram zu Gast – und auf der Suche nach der Genialität

Potsdam - Die Frage „Was ist Genie?“ ist in Zeiten der Entwicklung und Erprobung künstlicher Intelligenz hochaktuell. Genau dieser Problematik versucht die neue Wilde & Vogel-Figurentheaterproduktion „Die Empfindsamkeit der Giganten“, die am Wochenende im Rahmen der Unidram-Jubiläumsreihe im T-Werk gezeigt wurde, auf den Grund zu gehen.

Doch wie der Titel bereits andeutet, geht es dabei nicht um die Erkundung der humanen und Optimierung der humanoiden Hardware, sondern vor allem um eine hintersinnig poetische Erforschung der weichen Seite, der sogenannten emotionalen Intelligenz des Menschen.

Auf Freuds Couch

Untersuchungsobjekte sind die Universalgenies Leonardo da Vinci und Johann Sebastian Bach. Und Sigmund Freud, der 1909 mittels seiner berühmten Leonardo-Studie „Eine Kindheitserinnerung des da Vinci“ die „Hemmungen in Leonardos Sexualleben und seiner künstlerischen Tätigkeit“ erklären wollte. Die sei brillant misslungen, wie die Inszenierung und das anregungsreiche Programmheft den Kunsthistoriker und Sozialpsychologen Manfred Clemenz zitieren.

Bevor sich der italienische Renaissance-Gigant in der Inszenierung jedoch auf die berühmte rote Couch des Wiener Psychoanalytikers legt, wandert erst einmal ein Stuhl – wie von Geisterhand gezogen – von der linken Bühnenseite in deren Mitte. Und Michael Vogel im roten, goldverzierten Samtmantel, plumpst einfach darauf nieder.

Collage mit Jahrmarkt

So „ist das Leben, wen’s erwischt, der muss es eben nehmen. Manche haben’s, manche nicht – das Genie. Lasst es uns suchen und demokratisch unter uns verteilen“, kommentieren die beiden Herren heiter und stürzen sich ins kunterbunte Treiben, das nun folgt. Vogel wird mithilfe einer Bartlocke Leonardos und Christoph Bochdansky mit Freuds Zigarre in der Hand zum Medium, das fast wie in einer esoterischen Séance „Nachrichten“ der verstorbenen Giganten empfängt.

Das ergibt eine wunderbar groteske, assoziationsreiche Collage, aus der man zwar nicht wirklich schlauer, aber ein stückweit beseelter herausgeht. In der zum Beispiel – wie auf einem Jahrmarkt Anfang des 20. Jahrhunderts – Leonardos Arm in drei Teile zerteilt und natürlich mit unversehrter Zigarre wieder zusammengesetzt wird. Oder die beiden Herren mithilfe von Handpuppen als Leonardos Traum-Vogel Milan und Freuds Hund agieren und sich über prägende (sexuelle) Kindheitserfahrungen da Vincis auslassen, dem angeblich ein Geier (ein Übersetzungsfehler Freuds!) mehrere Male im Traum mit seinem Schwanz im Mund herumfuhrwerkte. Mithilfe seines Drei-Instanzen-Modells lässt sich auch diese Geier-Fantasie deuten.

Musikstücke von Bach und Schubert

Von „kleinen Vögeln und dem großen Vögeln“ erzählen auch das kaputte Ei, ein überdimensionierter Penis und Freuds Zigarre. Und wenig später tauchen ein riesiges, plüschig verästeltes Struktur-Mobile der menschlichen Psyche und natürlich auch ein Bildnis der bis heute unergründlich lächelnden Mona Lisa auf. Man/n philosophiert über den gewaltigen Unterschied zwischen Lächeln und Lachen und hört die Geschichte vom kleinen Vogel Twiditwi und der frühen Entwicklung der Aerodynamik, bei der sich Leonardo von den Vögeln inspirieren ließ.

Darunter liegen oder dazwischen ertönen Musikstücke oder -zitate von Johann Sebastian Bach und Franz Schubert, die Charlotte Wilde ihrer Violine, dem Synthesizer und allerlei anderen Klangerzeugern entlockt. Eine geniale Musik- und Geräuschsuppe braute sich da zusammen, die sowohl aufs Unterbewusste wirkte als auch die übergriffige Zigarrenszene auf der Couch großartig konterkarierte.

Poetischer Seelenstrip

„Die Empfindsamkeit der Giganten“ ist die dritte Koproduktion des renommierten Wiener Puppenspielers Christoph Bochdansky mit Wilde & Vogel und dem Stuttgarter Fitz. „Entwicklungshilfe“ leistete der Regisseur Gyula Molnár, ein Spezialist für den poetischen Seelenstrip der Figuren. „Hier herrscht Erkenntnis“, sagt Bochdanskys Freud gegen Ende, doch die Inszenierung führt gerade dies wunderbar ad absurdum. Sie überzeugt mit ihrem großen Überraschungsfaktor, ihrer verspielten Leichtigkeit und jeder Menge Ironie. Gigantisch auch der Abschluss: das berühmte Matrosenlied „Die großen weißen Vögel“ von Peer Raben. Das Wort Weinen klingt hier wie Leiden und auch dies eine Ingredienz, die sowohl das Genie als auch die Normalsterblichen am Leben (er)hält.

- In drei Wochen ist in der Unidram-Jubiläumsreihe das international bekannte russische Tanztheaterensemble „Derevo“ mit „Mephisto Waltz“ im T-Werk zu Gast.

Astrid Priebs-Tröger

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