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Unidram 2019 in Potsdam: "Rausch und Zorn": Der Zuschauer wird Soldat

Das interaktive Hörstück „Rausch und Zorn“ der Gruppe Ligna verlangt den Unidram-Besuchern einiges ab und hinterfragt die eigene Festung.

Von Sarah Kugler

Potsdam - Der Körper ist angespannt. Oberschenkel werden zur Mauer, Arme zum Schutzschild, Füße haften sich an den Boden. Alles ist zur Verteidigung bereit, zum Aufhalten der näherkommenden Menschengruppe, die wie eine Welle die eigene Festung zu überrollen droht. Aber zur Verteidigung wovon eigentlich? Und warum bin ich diese undurchdringliche Mauer und nicht der Angreifer auf der anderen Seite? Solche und ähnliche Fragen kamen am Samstagabend in der Schinkelhalle auf. 

Im Rahmen des internationalen Theaterfestivals Unidram war hier das interaktive Hörstück „Rausch und Zorn. Studien zum autoritären Charakter“ der Gruppe Ligna zu erleben. In 13 „Studien“ werden die Zuschauer dabei zu Teilnehmenden. Mit Kopfhörern in den Ohren erhalten sie Anweisungen, werden immer wieder herausgefordert. Zur Interaktion und zu szenischen Darstellungen animiert. Über allem die Frage: Wie entsteht Faschismus? Und kann ein Blick in die Geschichte helfen, ihn nicht wieder aufleben zu lassen?

In "Rausch und Zorn" werden die Zuschauer selbst zu Handelnden. 
In "Rausch und Zorn" werden die Zuschauer selbst zu Handelnden. 

© Jörg Baumann

Im Laufe des Abends geht der Blick dafür zurück, wird mit historischen Szenen konfrontiert. Alles beginnt mit einer Wanderung nach Fiume. Jenem Freistaat, der 1920 bis 1924 bestand. Der italienische Schriftsteller Gabriele D’Annunzio, der auch als Ideengeber des Faschismus gilt, herrschte hier kurz. Bereits im Dezember 1920 musste er Fiume verlassen, doch am Samstag sind die Besucher von „Rausch und Zorn“ kurz Zeuge seines dortigen Machthöhepunktes. Bevor es soweit ist, werden die Teilnehmenden zunächst in das Areal der Schiffbauergasse geschickt.

In der symbolischen Wanderung, bei der die Havel zur Adria wird, bereitet das Hörstück auf den Abend vor, fordert die Gruppe auf, sich in einer geordneten Paarformation fortzubewegen. Schüchtern lächeln sich einige an, laufen tatsächlich nebeneinander, eine wirkliche Ordnung stellt sich aber nicht ein – auf eine gewisse Art  beruhigend. Und so mutet das Stück zunächst wie ein Spaziergang an, hier und da wird noch getuschelt oder gekichert.

Doch spätestens bei der Rückkehr zur Schinkelhalle, die hier das Erreichen von Fiume symbolisiert, wird klar: Nicht alle Teilnehmenden erhalten die gleichen Anweisungen durch ihre Kopfhörer. Plötzlich sieht man sich finster dreinblickenden Menschen mit verschränkten Armen gegenüber, die ein eventuelles Durchkommen verhindern wollen. Schon hier kommt leichtes Unbehagen ob der möglichen erzwungenen Konfrontation auf. Umso größer die Erleichterung als man endlich in dem Zuschauerraum der Schinkelhalle Platz nehmen darf.

Die Teilnehmenden sollen in verschiedene Rollen schlüpfen.
Die Teilnehmenden sollen in verschiedene Rollen schlüpfen.

© Jörg Baumann

Allerdings: Block und Reihe werden durch den Kopfhörer zugewiesen. Leise stellen sich Zweifel ein. Wie weit geht dieser Abend? Darf ich mich widersetzen? Den Aufforderungen in meinem Ohr nicht Folge leisten?

Und auf einmal wird man, auf seinem Stuhl stehend, selbst zu D’Annunzio, hört sich mit seinen Sitznachbarn patriotische Formeln rufen, während andere Besucher auf der Bühne das jubelnde Volk mimen. Dann ein erster Knackpunkt: Der rechte Arm D’Annunzios soll zum Gruß erhoben werden. Einige Arme heben sich zögerlich, bleiben aber eher eine Andeutung der Bewegung, andere bleiben unten. 

Szenenwechsel: Die D’Annunzios werden zu Soldaten, die Schulter an Schulter auf einem Platz in Fiume eine Gruppe von Arbeitern aufhalten sollen. Warum wird nicht ganz klar, was es zu schützen gilt auch nicht. Die Anweisung lautet nur: niemanden durchlassen. Und das Erstaunliche: man lässt niemanden durch. Obwohl man es möchte, obwohl es unangenehm ist, wie sich diese anderen versuchen an einem vorbeizudrängen, einem viel zu nahe kommen. Das Bedürfnis aufzugeben, Harmonie wieder herzustellen ist groß. Doch stattdessen drücken sich die Füße fester in den Boden, die Arme verschränken sich noch stärker. Die Stimme im Ohr will es schließlich so.

Nicht alle Interaktionen sind so unangenehm, manchmal ist es auch ein freundliches Händeschütteln, ein Einander-Umkreisen, ein Lächeln. Intime Momente zwischen Fremden, die kurze Erleichterung verschaffen. Und trotzdem: „Rausch und Zorn“ verlangt einiges von seinen Teilnehmenden und zeigt sehr deutlich, wie sehr der Mensch sich an der Masse orientiert. Immer wieder gehen die Blicke zu den anderen. Machen die das auch? Muss ich voran gehen? Muss ich mich einmischen? Der Körper ist ununterbrochen angespannt, der sonst so geschützte Raum des Theaters wird gesprengt – und bleibt doch bestehen. Bleibt an diesem Abend die Entschuldigung dafür, Anweisungen zu gehorchen, blind mitzuschwimmen in einem Kollektiv.

Am Ende die letzte Aufforderung: den „Weg nach Fiume“ vom Anfang noch einmal zu betreten, die Schinkelhalle rückwärtsgehend verlassen und zurückzublicken auf diesen Abend. Die Anspannung fällt langsam ab, regelrecht erleichtert wird sich zugelächelt. Und doch bleibt Unbehagen. Das Unbehagen, sich selbst hinterfragen zu müssen. Lignas „Rausch und Zorn“ gelingt es damit auf genial radikale Art, die eigene Festung ins Wanken zu bringen und sich in Zukunft hoffentlich häufiger von außen zu betrachten.

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