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Kultur: Überall ist Babadag

Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk las im Literaturladen Wist

Ein wenig konnte sich der Zuhörer im Literaturladen Wist wie auf einer langen Busfahrt vorkommen. Die Landschaften, Gebäude und Lebewesen draußen flogen an ihm vorüber, während der bekannte polnische Autor Andrzej Stasiuk in seiner Muttersprache leise und beinahe gleichförmig wie ein Motorengeräusch einige Kapitelanfänge aus seinem neuesten Buch „Unterwegs nach Babadag“ las.

Der HOT-Schauspieler Moritz Führmann war dabei ein willkommener Reisebegleiter, der mit viel Einfühlungsvermögen den Orten und Ereignissen dieser literarischen Erkundung Osteuropas Namen und Gesichter gab: Die grünen Hügel von Zemplén, die Berge von Cornohora oder Spiská Belá in der Zips und Rasinari, der Geburtsort des rumänischen Dichters Emil Cioran. Ferne fremde Landschaften und doch mitten in Europa. Süd- und Osteuropa versteht sich, denn der 1960 in Warschau geborene Stasiuk hat zwei Leidenschaften: Autofahren und Europa.

Und so „erfährt“ er buchstäblich mit allen Sinnen dieses riesige Staatengebilde mit den unzähligen Grenzscheiden und den spannenden kulturellen Unterschieden. In vierzehn Reiseskizzen von Albanien, Moldawien, Rumänien, über die Ukraine, aus Ungarn und der Slowakei. Dabei interessiert er sich nicht so sehr für deren historisches Gewordensein sondern viel mehr für die alltägliche erlebbare Gegenwart: Gerüche, Klänge und Geschmacksnuancen. In scheinbar zeitlosen Landschaften mit den ewig gleichen Tieren. In den einfachen Kneipen mit trinkenden und rauchenden Kerlen. Und immer wieder im archaisch anmutenden Leben der Zigeuner. Das fühlt sich für den Zuhörer an wie ein Film mit vielen Erinnerungsfetzen, Momentaufnahmen und Episoden, philosophischen Reflexionen und Traumsequenzen. Deutlich mit Melancholie und Wehmut verwoben. Vorerst werden die Autospuren im Sand noch von dicken schwarz gekleideten Frauen mit Seifenlauge weggespült, aber irgendwann gibt es auch in diesem Ort einen Straßenbahnanschluss wie von Rasinari nach Cibiu.

Andrzej Stasiuk ist es eine Herzensangelegenheit, genussvoll und lebensprall, diese, vor allem vom westlichen Europa nicht wahrgenommenen Landstriche und den oft vergessenen Teil europäischen Denkens zu beschreiben und so vielleicht dem Vergehen zu entreißen. Dazu gehört für ihn auch, Autoren aus süd- und osteuropäischen Ländern in seinem Verlag in den polnischen Beskiden zu verlegen. In seiner eigenen klaren Prosa, in spröden schönen Bildern beschwört er eine erdige, manchmal fast märchenhaft anmutende und wahrscheinlich größtenteils dem Untergang geweihte Welt.

Beinahe vehement wehrt sich Andrzej Stasiuk jedoch in öffentlichen Diskussionen gegen den Vorwurf der „Ästhetisierung von Armut“, denn schließlich leben 200 Millionen Menschen in Osteuropa in ebensolchen Verhältnissen.

Für „Unterwegs nach Babadag“ – „einem kleinen Ort mit bröckelnden Mauern und Häusern, die zerfielen, bevor sie alt wurden“, irgendwo auf der berühmten Landenge zwischen Ostsee und Schwarzem Meer - bekam er im letzten Jahr den höchsten polnischen Literaturpreis NIKE. Schlagfertig und ironisch stand er nach der Lesung noch seinem anwesenden Suhrkamp-Übersetzer Olaf Kühl Rede und Antwort zu seinem Bild von Europa, und, warum er weder über den Westen noch über Russland schreiben wird.

Die Fans und Literaturliebhaber im vollbesetzten Wist-Buchladen brauchten nach der fast zweistündigen Reise, die vom Brandenburgischen Literaturbüro organisiert wurde, eine wohlverdiente Pause und bedankten sich bei dem Autor und seinen Reisebegleitern mit herzlichem Applaus. Astrid Priebs-Tröger

Astrid Priebs-Tröger

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