zum Hauptinhalt
Zwischenstopp. Der Choreograf Ali Chahrour lebt in Beirut, war im Sommer beim Theaterfestival in Avignon zu Gast und arbeitet bis 3. Januar an der fabrik an seinem neuen Stück.

© J. Bergmann

Kultur: Trauer tanzen

Zu Gast in der fabrik: Der libanesische Choreograf Ali Chahrour bringt schiitische Riten auf die Bühne

Ein Junge weint nicht, sang ein Liedermacher in den 1980er-Jahren. Und weiter: „Ein Junge beißt / sich auf die Zunge, auch wenn das Herz reißt.“ Das ist lange her, vieles ist heute anders. Jungen dürfen, solange sie klein sind, sogar weinen. Aber Männer und Trauer, das geht auch heute nur schwer zusammen. In Zeiten, da viele andere Tabus keine mehr sind, hat das Bild eines weinenden erwachsenen Mannes immer noch erstaunliches Verstörungspotenzial – mehr als ein nackter Frauenkörper allemal. Es rührt an den Festen einer Welt, die sich sicher wähnt, solange die Männer Stärke zeigen. Und Tränen sind schwach. Tränen sind Frauen- und Kindersache.

Was für den europäischen Raum gilt, gilt, vielleicht sogar noch mehr, auch für den arabischen. Fragt man den libanesischen Choreografen Ali Chahrour, wann seine Auseinandersetzung mit dem Thema Trauer begann, erzählt er vom Tod seines Vaters vor zwölf Jahren. Damals war er neben drei Schwestern der einzige Mann im Haus. Man erwartete, dass er sich auch so benahm. Doch er sah, wie die Männer vor sich hinstarrten, die Frauen weinten, und weinte auch. Und wusste nicht, was daran falsch sein sollte.

Seitdem macht Ali Chahrour diese Sache, die öffentliche Trauer, durch seine Arbeit zu seiner eigenen, zu einer Männersache. Er hat bereits zwei Stücke vorgelegt, die sich mit schiitischen Trauerritualen beschäftigen, momentan arbeitet er in der Potsdamer fabrik an einem dritten Stück, das sich nun der Frage widmen soll, wie Männer mit Trauer umgehen. Es wird zunächst in Beirut gezeigt werden und hat dann bei den Tanztagen 2017 im Mai in Potsdam Europa-Premiere.

Chahrour ist so etwas wie ein Shootingstar der internationalen Tanzszene. Im Sommer war er beim französischen Festivalgiganten in Avignon mit gleich zwei Produktionen vertreten – ein gutes Indiz dafür, dass man bald sicher schon niemandem mehr erklären muss, wer er ist. Umso schöner, dass die fabrik diesen Ali Chahrour schon jetzt, seit kurz vor Weihnachten, im Rahmen einer durch das Goethe-Institut ermöglichten künstlerischen Residenz bis zum 3. Januar bei sich zu Gast hat: Es beweist einmal mehr, wie nah das Haus am internationalen Geschehen ist. Die fabrik darf sich auch rühmen, schon bei den diesjährigen Tanztagen im Mai Chahrours jüngstes Stück, „Maout Leila (Leilas Abschied)“ bereits gezeigt zu haben – noch vor dem großen Bruder Avignon. Und schon davor war er einmal an der fabrik gewesen: vor drei Jahren im Rahmen eines Workshops mit den Tänzerkollegen Hermann Heisig und Mickaël Phelippeau.

Wie polarisierend die Auseinandersetzung mit dem Thema Trauer sein kann, zeigten die Aufführungen von „Leilas Abschied“ zu Hause in Beirut, wo Ali Chahrour lebt und arbeitet. In „Leilas Abschied“ steht eine Klagesängerin auf der Bühne. Eine ältere, runde Frau mit Kopftuch, die ihren Lebensunterhalt damit verdient, bei Trauerfeiern andere zum Weinen zu bringen. Früher gab es viele Klagesängerinnen im Libanon, sagt Chahrour. „Aber in den letzten zehn Jahren hat das enorm abgenommen. Diese Kultur ist auch im Libanon dabei zu verschwinden. Der Tod wird heute nicht mehr anhand eines einzelnen Verstorbenen beklagt, er wird oft politisch vereinnahmt.“ Die Präsenz einer Klagesängerin auf der Bühne irritierte viele Zuschauer in Beirut. Man empfand es als unangemessen, eine solche Frau vor Publikum singen und tanzen zu sehen. Einige, erzählt Ali Chahrour, verließen gleich zu Beginn des Stückes den Saal, als Leila die Worte eines Gebetes spricht. Auch die Verbindung von tänzerischen Bewegungen, von Rhythmus und Gebet wurde im Libanon von einigen als provokativ empfunden.

Wobei Ali Chahrour gar nicht provozieren will, sagt er. Sondern: seine Religion und deren Riten untersuchen. Fragen, wie sie ihn und andere prägen. Was mit dem Körper dabei passiert. Und respektvoll bleiben. Das eigentlich Erstaunliche an „Leilas Abschied“ sei überhaupt gewesen, dass am Ende Menschen verschiedenster Überzeugungen in Beirut damit unzufrieden waren. „Die Gläubigen fühlten sich provoziert, für die Nicht-Gläubigen gab es zu viel Religiosität auf der Bühne.“ Dieser erstaunliche Zwist scheint Ali Chahrour zu freuen. Vielleicht ist ja genau das, das Beharren darauf, sich nicht positionieren zu müssen, in Zeiten des Populismus und der verhärteten Fronten, das eigentlich Politische an seiner Arbeit? „Man entkommt der Politik ohnehin nicht“, sagt Chahrour. „Selbst wenn ich sagen würde, dass ich keine politischen Stücke mache, wäre das ein politisches Statement.“

Der Arbeitstitel für das Tanzstück, das an der fabrik gerade ein bisschen weiter wächst, ist „Men of the Land of Fire“. Es wird ein wilderes Stück als sein Vorgänger, sagt Ali Chahrour. Eines, das zeigen wird, wie nah Trauer und Wut sein können. Die Männer aus Feuerland? Der Titel bezieht sich auf einen Stamm in Südamerika, den Ali Chahrour während seiner Recherchen zu Männlichkeitsritualen aufgetan hat. Bei den Selk’nam gab es einen Geist, vor dem die Kinder sich fürchteten. An der Grenze zum Mannesalter sollten die Jungen diesem Geist in einem Ritual die Maske herunterreißen – um so Angst und Schwäche zurückzulassen. Bei Mädchen sah das anders aus, für sie sollte der Geist furchterregend bleiben. Die Selk’nam gibt es nicht mehr.

Was die Männer aus Feuerland mit Ali Chahrour und dem Libanon zu tun haben? Er habe den Verdacht, sagt Ali Chahrour, dass vieles von dem, was ihn umgibt, nur Masken seien. Männlichkeit, sagt er, ist eine von ihnen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false