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Woher die Nashörner kommen, welche Gefahr von ihnen ausgeht und wie dieser rechtzeitig beizukommen wäre, das alles ist für die Bewohner der Kleinstadt kein Thema. 

© Thomas M. Jauk

Theaterkritik zu "Die Nashörner": Vorsicht: Infektionsgefahr!

Esther Hattenbach seziert in Ionescos „Nashörnern“ am Potsdamer Hans Otto Theater die heutige Social-Media- und Talkshow-Realität.

Potsdam - Es passiert einfach. Eines Tages taucht ein Nashorn auf und nach und nach verspüren immer mehr Menschen das Bedürfnis, ebenfalls ein alles niedertrampelnder Dickhäuter zu sein. Die Population wächst rasant und alle – bis auf einen – stecken sich quasi epidemisch mit „Rhinozeritis“ an. Das ist das absurd-poetische Geschehen, das Eugène Ionesco in seinem berühmten Stück „Die Nashörner“ erzählt, das vierzehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Entstehung totalitärer Systeme thematisiert. Und das schon deswegen absurd anmutet, weil Nashörner als Einzelgänger gelten.

Worin besteht die Faszination, ein Nashorn zu sein – das ist eine der Fragen, die man sich stellt, wenn man das Stück von Ionesco liest. Doch in der Inszenierung von Esther Hattenbach, die am Freitagabend im ausverkauften Hans Otto Theater Premiere hatte, kommt diese Anziehungskraft beim eigenen Zuschauen kaum auf.

Denn die auch dort immer stärker werdende Rhinozeros-Population bleibt nicht nur im Wortsinn unsichtbar. Lediglich lautes Grunzen, Schnauben, Trampeln behauptet akustisch deren Präsenz. Anders als in Ionescos Vorlage, in der der Autor der Beschreibung der körperlich mächtigen Tiere und ihrer Robustheit sehr viel Raum gewährt und auch darüber Faszination nachvollziehbar werden lässt. Beispielsweise bei der für alle sichtbaren, körperlichen Verwandlung von Hans – der bei Hattenbach schon anfangs und äußerlich gaulanddesk mit Lesebrille und Hundekrawatte von Jörg Dathe dargestellt wird – und so schon ein „Nashorn“ ist.

Alles wird zerredet

Die Regisseurin investiert insgesamt viel Raum und Ideen in die Zeichnung der (gegenwärtigen) Gesellschaft der kleinen, hier in Brandenburg angesiedelten Stadt, in der Hans und Behringer, Stech und Wisser, Daisy und Frau Ochs, die Kellnerin und die Hausfrau, der Wirt, der Herr und nicht zuletzt der Logiker – als hauptsächliche Vertreter eines (klein-)bürgerlichen Milieus leben.

Alle sind mit ihren bunten birnenförmigen Kleidern und den kindischen Dreiviertelhosen (Kostüme: Regina Lorenz-Schweer) Puzzle-Teile einer lauten und oberflächlichen Gesellschaft, die ästhetisch Anklänge an „Alice im Wunderland“ entwickelt. Und in der ständig geredet und erklärt, erklärt und geredet und letztlich alles zerredet wird. So auch der Fakt, dass ein oder zwei Nashörner urplötzlich in der Stadt aufgetaucht sind. Hattenbach zeigt von Anfang an – unter anderem durch die Kostümierung und den Sprachgestus – die Konformität der Einzelnen; selbst Behringer, der bei Ionesco noch ganz der Außenseiter ist, gehört hier zum Mainstream.

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Eine gelungene Parodie

Woher die Nashörner kommen, welche Gefahr von ihnen ausgeht, wie dieser (rechtzeitig) beizukommen wäre – das alles ist nebensächlich und nicht der Rede, ja nicht einmal eines Gedankens wert. Stattdessen fängt man immer wieder an zu streiten, ob die einhörnigen afrikanische und die zweihörnigen asiatische Nashörner sind – oder war es umgekehrt?

Dieses Endlosschleifen-Gequassel und die sich daraus hochspulende Hysterie – insgesamt eine überzeugend geschlossene Ensembleleistung – spiegeln unsere gegenwärtige Talkshow- und Social-Media-Realität wider. Auch der Büro-„Tango“ im zweiten Akt (choreografische Einstudierung: Marita Erxleben) ist eine gelungene Parodie auf unser modernes Arbeitsleben. Und selbst die hysterisch ausagierten Trauerrituale – ein Stubentiger ist das erste Opfer der durch die Stadt trampelnden Dickhäuter – halten der (medialen) Gegenwart wirkungsvoll den Spiegel vor.

Und auf der imposanten Bühnenkonstruktion von Regina Lorenz-Schweer – aus einer Vielzahl von unterschiedlich hohen, breiten und langen Podesten, die über die gesamte Bühnenbreite und fast bis zur Decke reichen – turnen die neun Schauspielerinnen und Schauspieler so lange herum, bis sie herunterkippen und in den ansteckend (un-)heimlichen Nashorn-Kosmos gesogen werden.

„Diese Gesellschaft kann kippen"

Der Erste ist der schwerblütige Herr Ochs, die Letzte die quirlige Büroangestellte Daisy (Franziska Melzer), die kurz vorher noch liebestoll und ganz im Banne Behringers mit diesem die Menschheit retten wollte. Doch die Kipppunkte, die in Ionescos Text so überzeugend herausgearbeitet sind, gehen hier im hochgedrehten Geschwafel unter. Und es beschleicht einen die unangenehme Ahnung, dass es hier und heute dieser Kipppunkte gar nicht mehr bedarf. Gleichzeitig mag man auch das Schlussbild – der letzte Mensch Behringer (Henning Strübbe) sitzt ganz oben links auf dem Podest mit einem Gewehr auf den vorgestreckten Händen – nicht wirklich „glauben“. Denn woraus speist sich seine Widerstandsfähigkeit, woher kommt die Verletzbarkeit all der anderen?

„Können wir zwei Tage nach Hanau überhaupt diesen Abend zeigen?“, fragte Intendantin Bettina Jahnke direkt in den Schlussapplaus hinein. „Diese Gesellschaft kann kippen, auch Deutschland kann kippen“, konstatierte sie. In diesem Sinne wäre es sicher produktiv, genau diese Kipppunkte zu zeigen und zu diskutieren, was jeder Einzelne tun kann, um die mentale Abwehrkraft gegen die drohende Infektionsgefahr zu erhöhen.

>>Es gibt noch Restkarten für die nächste Vorstellung am Donnerstag, dem 27. Februar, um 19.30 Uhr am Hans Otto Theater, Schiffbauergasse, mit Vorspiel um 19 Uhr

Astrid Priebs-Tröger

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