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Seit der Gründung im Jahr 1992 probt die Gruppe open-air auf einer Wiese in Glindow. Im Bild oben dortige Proben zu „Die Bacchanten“ von 2002 zu. Ton und Kirschen tourte früher bis nach Korea, heute sind sie vor allem in Frankreich unterwegs – und nach wie vor regelmäßig in Potsdam zu Gast. Erstmals 1993 mit „Woyzeck“ auf dem Luisenplatz (r. u.).

© A. Klaer (l.), Jean-Pierre Estournet

Theater in Potsdam: Eine Insel

Vor 25 Jahren schlug das Wandertheater Ton und Kirschen seine Zelte in Glindow auf. Derzeit gastieren sie auf dem Pfingstberg.

Ein Vierteljahrundert kann sich wie eine Ewigkeit anfühlen – oder aber auch nur wie ein Lidschlag, „a twinkling of an eye”, nannte es der Shakespeare-Zeitgenosse Christopher Marlowe. Für Margarete Biereye waren die letzten 25 Jahre offenbar Letzteres. Dass es Ton und Kirschen tatsächlich schon so lange gibt, scheint sie, die die Truppe 1992 gemeinsam mit ihrem Lebenspartner David Johnston gründete, am meisten zu wundern. Die Zeit ist einfach so verflogen, sagt sie und wirkt, als wüsste sie selbst gern den Grund dafür. Fast jedes Jahr ein neues Stück, jedes Jahr Reisen in die große internationale und in die kleine brandenburgische Welt, dazwischen Stopps in der Wahlheimat Glindow. Und schon waren 25 Jahre um, ohne dass jemand es so richtig gemerkt hätte.

Als die Truppe im Herbst letzten Jahres die Arbeit an ihrem neuen Stück begann, hatte niemand der Beteiligten das Jubiläum auf dem Schirm. Weswegen auch die Frage, warum gerade zum runden Geburtstag das womöglich traurigste ihrer Stücke gezeigt wird, ohne Antwort bleibt. „Bartleby der Schreiber“, das im November in der Potsdamer fabrik Premiere feierte und jetzt auf dem Pfingstberg zu Gast ist, ist die Geschichte einer radikalen Auslöschung: Bartleby arbeitet in einer Anwaltskanzlei und entschließt sich vom einen Tag auf den nächsten, nicht mehr mitzumachen. Höflich sagt er, wann immer man etwas von ihm verlangt: „Ich möchte lieber nicht.“ Was zu Beginn komisch wirkt, erweist sich bald als grundsätzliche Lebensverweigerung. Denn auch leben möchte Bartleby am Ende lieber nicht.

Der Bartleby-Darsteller spricht Deutsch nur auf der Bühne

Aber Ton und Kirschen wäre nicht Ton und Kirschen, wenn es nicht auch hier etwas zu lachen gäbe, gut choreografierte Slapstickmomente, und die bewusst ins Komische verzerrte Betonung deutscher Worte in den fremden Akzenten des international durchmischten Ensembles. Das Theater von Ton und Kirschen stand und steht für Farbe, für Bewegung, und immer auch für Internationalität. In der Besetzung von „Bartleby“ ist Margarete Biereye die einzige deutsche Muttersprachlerin. Bartleby wird von dem Italiener Stefano Amori gespielt, der für diese Inszenierung als Gast zum Ensemble gestoßen ist und jenseits der Sätze auf der Bühne kein Wort Deutsch spricht. Ein düster dreinblickender, somnambuler Bruder Buster Keatons.

Die Geschichte von Ton und Kirschen beginnt schon Jahre, bevor sich Ton und Kirschen 1992 in Glindow ansiedelt. 1973 hat Margarete Biereye gerade ihr Studium bei Jacques Lecoq in Paris beendet und stößt zum Ensemble des englischen Footsbarn Theatres, eine auf Shakespeare spezialisierte Wandertheatergruppe, mit der sie durch den englischen Süden und durch die Welt tourt. Dort trifft sie auch auf David Johnston, 1982 werden sie ein Paar. Nach der Wende erbt Margarete Biereye von ihrer Mutter ein Stück Land bei Glindow, also stellen sie in Glindow ihre Wagen auf, proben auf einer großen Wiese ihre neuen Stücke.

Brandenburg nicht als Zuhause - aber als Inspirationsquelle

So, durch Zufall, Familiengeschichte und ein bisschen Glück, wird das Dorf im Märkischen zum Heimathafen für die international vernetzte Truppe. Und sie schreibt sich den Ort in den Namen: Glindow, das kommt aus dem Slawischen Glina – Ton. Das gefiel Margarete Biereye, denn auch die Masken, mit denen Ton und Kirschen oft arbeiten, sind teilweise aus Ton. Auch die Kirschen sind ein Verweis auf die Obstgärten um Werder. „Es war schon eine Art Heimkehr für mich damals“, sagt Margerete Biereye. Ein Rückkehr zu den Wurzeln der eigenen Familie: Ihr Urgroßvater hatte hier eine Ziegelei betrieben.

Das eigentliche Zuhause der Truppe aber bleibt die Welt – die eigene, künstlerische, aber auch die große da draußen, die Ton und Kirschen mit ihren Stücken bereisen. „Wir sind eine Insel“, sagt David Johnston. Er hat sich, das spürt man, wenn er vom Ausflug in den lokalen Baumarkt erzählt, den Blick des Besuchers auf das Dorf, in dem sie leben, bewahrt. Wirkliche Heimat ist Brandenburg für ihn auch in 25 Jahren nicht geworden, sagt er. Was, wie er betont, nicht an Brandenburg liegt – sondern an dem Status, den sie als Künstler sich selbst ausgesucht haben. Nach 25 Jahren Frankreich wäre es das Gleiche gewesen, sagt er. Fließt die direkte Umgebung, Brandenburg, dennoch ein in die eigene Arbeit? Ja!, sagt Margerete Biereye. Nein!, sagt David Johnston, zeitgleich. Sie einigen sich darauf, dass wohl jeder Ort in die Stücke einfließt, indirekt.

Finanzielle Unterstützung aus unterschiedlichen Quellen: „Damit können wir leben“

Sie haben in all den Jahren viele Klassiker auf die Bühne gebracht, haben Goldoni inszeniert („Der Diener Zweier Herren“, 1994), Christopher Marlowe („Doktor Faustus“, 1999), Shakespeare (Hamlet“, 2007), Euripides („Die Bacchanten“, 2000), haben auf der Suche nach einer Märchenvorlage eine bis dahin weitgehend unbekannte Märchenbearbeitung von Bertold Brecht entdeckt („Hans im Glück“, 2008) – aber die Auseinandersetzung mit dem Eigenen, dem Brandenburgischen vor der Haustür haben sie bisher nicht gesucht. Vielleicht fließt ja etwas davon in die kommende Arbeit ein, die am 9. November in der fabrik Premiere haben wird. Noch gibt es nicht viel, erzählen die beiden – nur den Titel: „Chopalovitch“, geborgt von einem serbischen Autor, der darin die Geschichte einer Wandertheatergruppe erzählt.

Seitdem sie 1993 für „Woyzeck“ ihr Bühnenzelt auf dem Luisenplatz aufschlugen, sind sie dem Land Brandenburg auch durch Förderungen verbunden: Vom Kulturministerium des Landes Brandenburg wird es unterstützt, ebenso wie vom Landkreis. Ob es reicht? „Damit können wir leben“, sagt Margarete Biereye. „Aber wir leben auch sparsam.“ Eine kleine Struktur, auch privat wenig Ansprüche: So, und nur so, funktioniert das Abenteuer von Ton und Kirschen funktionieren. Sie touren nach Frankreich und Polen, nach Indien, Kolumbien, Korea und Marokko – aber wenn sie zu Hause sind, proben sie auf der Glindower Wiese, die Margerete Biereye von ihrer Mutter geerbt hat.

Einmal, Mitte August in Putlitz wäre die Aufführung fast abgeblasen worden

David Johnston und Margarte Biereye freuen sich inzwischen, wenn sie nicht mehr ganz so oft ganz so weit reisen müssen, beide sind über 70. Bis zu ihrem Auftritt auf dem Pfingstberg waren Ton und Kirschen in diesem Jahr bereits in Polen, an fünf Orten in Frankreich und an gut einem Dutzend Orten in Deutschland. Einmal, Mitte August in Putlitz, regnete es so stark, dass Margarete Biereye gar keine Lust hatte zu spielen. Man stand kurz davor, abzublasen. Dann, wenige Minuten vor Vorstellungsbeginn, klarte es plötzlich auf. Es wurde eine der besten Vorstellungen – und Margarete Biereye wusste wieder ganz genau, warum sie tun, was sie tun, seit 25 Jahren.

„Bartleby der Schreiber“, heute um 20 Uhr am Belvedere auf dem Pfingstberg und vom 23. bis 26. August in der ufaFabrik, Viktoriastraße 10–18 in 12105 Berlin.

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