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Umtänzeln. Abnabeln. Es geht in dem Spiel von Franca Luisa Burandt und Annekatrin Kiesel nicht nur um das Verhältnis von Mutter und Tochter, sondern um alle Frauen.

© Andreas Klaer

Tanztheater in Potsdams Französischer Kirche: Vom Loslassen, Verlassen und Finden

„Raven.child“ ist das erste Stück der Theatergruppe Lyriden 18. Noch bis zum 15. September ist das neodramatische Tanztheater in der Französischen Kirche zu sehen. Es erzählt von der Abnabelung eines Kindes von seiner Mutter. 

Auf Zehenspitzen schleicht die Frau an das, was unter einem weißen Laken verborgen liegt. Berührt es, lüpft das Tuch, zieht es weg. Die zweite Tänzerin darunter schrickt auf, erhebt sich, entfaltet sich – eine Geburt. Dann stehen sich beide Frauen gegenüber. Wer bist du, scheinen beide zu sagen. Sie umkreisen sich, schauen weg, schauen hin. Öffnen sich schließlich in ihrer Gestik, gehen aufeinander zu, berühren sich und beginnen einen Tanz. Ein Umtänzeln, das an das Miteinander von Mutterkatze und ihr Junges erinnern. Mit der Verzögerung eines Sekundenbruchteils folgt Franca Burandt den Bewegungen von Annekatrin Kiesel. Aus dem Lernen und Imitieren wird ein Spiegel, bald ein gemeinsames Spiel. Ein gemeinsames Ich. So harmonisch wird das Stück aber nicht lange bleiben.

„Da passiert noch richtig viel, auch Schmerzhaftes“, sagt Uta Hertneck. Die freie Regisseurin und Dramaturgin aus Potsdam hat das Stück geschrieben und führt auch Regie bei „Raven.child“. Es ist das erste Projekt des neu gegründeten freien Musik-Theater-Ensembles „Lyriden 18“. Neun professionelle Künstler aus den Bereichen Komposition, Musik, Schauspiel, Lyrik, Drehbuch, Kalligrafie und Tanz. Manche kennen sich seit Jahren, andere kamen neu hinzu. Das Ziel: Stücke zu entwickeln, mit denen wieder Geschichten erzählt werden. „Kein Experimentiertheater, sondern Neodramatik“, sagt Marcus Hertneck.

Die Suche nach dem eigenen Ich

Er hat die Dramaturgie in dem Stück seiner Frau übernommen. Der Drehbuchautor, der für mehrere erfolgreiche TV-Serien und Filme, wie die „Lindenstraße“, geschrieben und konzipiert hat, will das klassische dramatische Erzählen in den Fokus der Arbeit der Gruppe rücken. Weniger unverbindlichen Aktionismus, weg vom Dekonstruktivismus, hin zum roten Faden. Zu einem Erzählmodus mit Dramatik und Aussage, ein Stück, das den Zuschauer mitnimmt und für einen Moment im positiven Sinne befeuert, inspiriert. Deshalb hat sich das Ensemble nach den Lyriden, den Sternschnuppennächten, benannt. „Wir wollen Theaterfunken sein“, sagt Uta Hertneck.

Ihr erstes Stück ist „Raven.child“, Rabenkind, das erzählt, wie eine Tochter auf der Suche nach dem eigenen Ich sehr fremde Wege geht. Die Geschichte einer Abnabelung. Ein Kind, das die Mutter verlässt – ein Rabenkind, keine Rabenmutter.

Identitäten, Rollenmuster und Zwänge

Das Stück wird vom 7. bis 15. September in der Französischen Kirche aufgeführt. Ein Ort, der aufgrund seiner mittleren Größe und tollen Akustik für Theater gut geeignet ist. Pastorin Hildegard Rugenstein findet, dass darstellende Kunst gut in die Kirche passe. „In der Bibel werden schließlich auch jede Menge Geschichten erzählt, Eltern-Kind-Beziehungen sowieso“, sagt Rugenstein.

Uta Hertneck will Raven.child nicht auf Mutter und Tochter reduziert sehen, auch wenn es natürlich zunächst um genau diese Mutter und Tochter auf der Bühne geht. Aber es geht auch um alle Mütter und Töchter, es geht um alle Frauen, um die eine, die man ist. Oder sein will. Oder gerade nicht sein will. Es geht um Identitäten, Rollenmuster und Zwänge.

Insofern könnte man das Stück auch mit einem Vater und Sohn erzählen, sagt Uta Hertneck. Aber die Frauen lagen ihr dann doch näher: Denn trotz der Genderdebatte ist die Frage, wie man sich als Frau identifiziert, noch lange nicht auserzählt. Dabei soll aber gar nicht um den Selbstverwirklichungsdiskurs, der in den 1960er Jahren begann, angeknüpft werden. „Damals ging es eher darum, die Zugehörigkeit zu einer Schwarmidentifikation zu finden“, sagt Marcus Hertneck. „Jeder wollte irgendwo dazu gehören, beispielsweise zu einer kulturellen Gruppe. Das gibt es heute ja auch.“

Kombination aus Tanz, Gesang und Bildprojektionen

Nein, in ihrem Stück soll es um unterbewusste Rollenmuster gehen. Das, was man zum Beispiel von seiner Mutter, schließlich die erste Frau im Leben einer und eines jeden, übernimmt. „Da gibt es Erwartungen, auch sich selbst gegenüber. Und es braucht Mut, sich davon zu lösen“, sagt die Autorin. „Manchmal muss man verhärtete Selbst- und Fremdbilder aufgeben, um durch das neue Fremde wieder zueinander zu finden. Einander neu lieben zu können.

Im Stück wird das durch den Tanz der beiden Figuren erzählt, durch die begleitende, romantisch-dramatische Musik von der Pianistin und Komponistin Olga Riazantceva und durch Videoeinspielungen von Rabenvögel-Bildern. Das negativ konnotierte Bild des bösen Raben wird bewusst gebraucht. Wie angeblich der Rabe seine Jungen, so verlässt auch die Tochter das eigene Ich und das vorgegebene Ich der Mutter. Eine Suche zwischen Distanz und Nähe.

Dazu spricht die Schauspielerin Katrin Schönermark nachdenkliche Texte. „Vielleicht bin ich eine alterslose, weise Frau oder eine Göttin“, sagt Schönermark zu ihrer Rolle. „Oder sind wir drei Frauen doch nur eine einzige, in sich aufgespaltene Figur?“ 

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Am 8., 9., 14. und 15. September um 20 Uhr in der Französischen Kirche, Karten kosten 15 Euro

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