zum Hauptinhalt
Schicksalhaft. Katrin Schönermark (l.) spricht in „Raven.child“ die Texte.

© Andreas Klaer

Tanztheater in der Französischen Kirche Potsdam: Den inneren Raben fliegen lassen

Die Abnabelung von den Eltern, sich selbst suchen, einen Platz in der Welt finden: All diese Themen thematisiert das Tanztheaterstück "Raven.child" des Potsdamer "Lyriden 18" Ensembles. Herausgekommen ist ein Mutmachstück für alle .

Von Sarah Kugler

Federn sind ungemein zart – und haben doch Kraft. Sie entscheiden darüber, ob ein Vogel fliegt oder nicht. Das Tanztheaterstück „Raven.child“ des Lyriden-Ensembles, das am Freitagabend Premiere in der Französischen Kirche am Bassinplatz feierte, erzählt von solchen Nuancen. Von Federmomenten, die etwas Neues, etwas Kraftvolles schaffen können.

So wie das Kind, das zu Beginn des Stückes geboren wird. Unter einem weißen Bettlaken schlüpft es hervor, die schwarzen Haare etwas verstrubbelt, der ebenfalls schwarze Hosenrock noch etwas zerknittert. Die Mutter hat bereits alles für die Geburt vorbereitet, saubere Laken sortiert, den Raum geordnet. Doch so soll es nicht lange bleiben. Zwar tastet sich die Tochter zunächst an den gesteckten Grenzen ab, imitiert das Verhalten der Mutter, ahmt ihre Alltagsroutine nach. Doch schon bald lässt es ein gefaltetes Laken mit Nachdruck auf den Boden fallen und überquert die von der Mutter vorgegebenen Grenzen – um sich selbst zu suchen.

Berührender Abnabelungsprozess

Dieses „Raven.child“, das „Rabenkind“, vollzieht zunächst den natürlichen Abnabelungsprozess eines Kindes: mit pubertärem Aufbegehren, Sinnkrise, Ich-Suche. Eine alltägliche Geschichte. Doch die etwa einstündige Inszenierung von Regisseurin Uta Hertneck versteht es, sie berührend zu erzählen und stellt die niemals langweilig werdende Frage nach dem Sinn unseres Seins.

„Raven.child“ kombiniert Tanz, Musik, Gesang, Lyrik sowie Videokunst gekonnt miteinander. Ein auf der Stelle fliegender schwarzer Rabe vor grauem Himmel, der an Wand und Decke der Kirche zu sehen ist, verrät gleich zu Beginn: Hier wird eine Kampfgeschichte erzählt. Ein schmerzhaftes Auf-der-Stelle-Treten, aus dem es sich zu befreien gilt. Der Tanz von Franca Luisa Burandt und Mutterdarstellerin Annekatrin Kiesel zeugt von diesem Schmerz – auf beiden Seiten.

Auch die Mutter muss ihren Platz finden

Wenn das Kind sich aufmacht, die Welt zu erkunden, bleibt die Mutter zurück. Ohne ihre erzieherische Aufgabe muss auch sie einen neuen Lebenssinn finden. Den Wandel vom starken disziplinierten Elternteil über die Verlorene bis hin zur selbstbestimmten Frau zeigt Annekatrin Kiesel überzeugend. Berührend arbeitet sie sich aus harten, zackigen in weiche, fließende Bewegungen. Franca Luisa Burandt vollzieht eine ähnliche Wandlung: Ihre Bewegungen sind zunächst geduckt und abgehackt, dann mechanisch suchend und schließlich fließend, dem Himmel zugewandt. Wie sie sich am Ende streckt und reckt, die Füße fest auf den Boden gestemmt, ist ermutigend kraftvoll.

Beide Tänzerinnen erzählen nicht nur eine Mutter-Kind-Beziehung, sondern von zwei Frauen, die ihren selbstbestimmten Platz in der Welt suchen. Ohne dabei zu vereinsamen, auch jenseits ihrer vorgeschriebenen Rollen. „Es gibt keine Nähe ohne Anpassungsdruck“, heißt es in einer von Lilli Werner geschriebenen Textzeile.

Das Schicksal agiert mit

Gesprochen wird die Passage, wie alle anderen Texte auch, von Katrin Schönermark, die in „Raven.child“ wie das personifizierte Schicksal agiert. Mal spricht sie mahnende Worte von der Empore herunter, mal bewegt sie sich zwischen den beiden Tänzerinnen. Am Ende stehen sowohl Mutter als auch Kind alleine neben dieser Schicksalsfigur. Während sich die Tochter an sie schmiegt, traut sich die Mutter kaum, deren Hand zu berühren. Zwei der berührendsten Momente des Stückes.

Die live eingespielte Musik von Olga Riazantceva – Klavier, Cello, Orgel – unterstreicht diesen Prozess mal leise, mal dramatisch und füllt auch die Zwischenmomente mit sehnsuchtsvoller Stimmung – einer Sehnsucht nach Leben, danach, anzukommen. Aber eben auch nach all den Federmomenten dazwischen, die über Flug oder Absturz entscheiden. Eine Antwort auf die Lebenssinnfrage gibt „Raven.child“ nicht. Dafür weckt das Stück den Wunsch, etwas Neues, Kraftvolles in sich zu entdecken. Sich mit dem inneren Raben in die Luft zu erheben. 

+++

Wieder am 14. und 15.9., jeweils 20 Uhr in der Französischen Kirche am Bassinplatz.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false