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Mit ausgebreiteten Armen. Tänzer Adam Adassinsky als Frühling.

© Maik Rafail

Tanz in Potsdam: Ungeheuer zärtlich

Die russische Tanztruppe Derevo gastierte mit „Mephisto Walz“ im T-Werk und findet schöne Bilder für das Sterben.

Potsdam - Der Winter dauert lange in diesem Jahr. Doch jeder weitere Schneeschauer bringt auch den Frühling ein Stück näher. Dieses Nicht-mehr und das Noch-nicht ist auch das Thema der grandiosen Tanzproduktion „Mephisto Waltz“ des russischen Ensembles Derevo, das am Wochenende im Rahmen von „25 Jahre Unidram“ im T-Werk gastierte.

Als die Zuschauer den Saal betraten, erwartete sie zuerst eine mit rot-weißem Flatterband abgesperrte Bühne. Mit den Gerüsten an der Seite und den schwarzgekleideten Gestalten, die mit Taschenlampen umherflitzen, erinnerte sie an eine Baustelle. Oder, als man wenig später das aus Stoffbahnen zusammengesetzte dunkle Kreuz am Boden wahrnahm, an ein geheimnisvolles Zwischenreich. In dessen Mitte ein geheimnisvoller Nabel kraftvoll pulsierte.

Getanzter Frühling

In solch metaphysischen Welten sind die russischen Tänzer und Tänzerinnen um den Choreografen und Performer Anton Adassinsky schon lange zu Hause. 2003, zum zehnten Unidram-Festival gastierten sie mit „La Divina Commedia“. Auch bei dieser Produktion der 1988 in Leningrad von Adassinsky ins Leben gerufenen Truppe ging es um die großen Sinnfragen. Es ging um das, was letztlich unser Leben und Sterben ausmacht. Und die russischen Tänzer schaffen es damals wie heute aufwühlend und tröstlich zugleich, diese Fragen mit klaren, einprägsamen Bildern vor allem dem Herzen nahezubringen.

Da kommt plötzlich ein kleiner Schneemann auf die Bühne. Nur noch aus zwei Kugeln bestehend, mit frecher roter Nase und keckem Eimerhut. Er und der Frühling – Adassinsky verkörpert ihn mit weit ausgebreiteten Armen und Vogelnest auf dem kahlen Kopf – reichen sich für einen Augenblick die Hand. Woraufhin der kleine Kerl ganz sanft und ungeheuer zärtlich zerfließt.

Erinnerung an Faust-Film

Auch sonst findet „Mephisto Walz“ ungemein schöne Bilder für das Sterben. Die Angst davor und die Brutalität des Übergangs wird nur durch den vorwiegend rational denkenden Menschen selbst hereingebracht. Denn die schwarzen Schattenvögel oder hellen Ziegen- Zwischenwesen, die da tanzen, sind zwar dunkel, aber sie töten nicht.

Das gierig-brutale Töten haben die Menschen erfunden. Adassinsky zeigt es mit dieser blaugrünen eiförmigen Erde, die er unter dem Arm trägt. Als sie zu Boden fällt und in zwei Teile zerbricht, wühlt er im roten Inneren der Wassermelone gierig nach Nahrung und nach Sinn – beides findet er nicht.

Diese Sequenz erinnert an Alexander Sokurows preisgekrönten Film „Faust“, in dem Anton Adassinsky den Mephisto als Wucherer verkörperte. In dessen Anfangsszene wühlt Faust in den Gedärmen eines toten Mannes, um dessen Seele zu finden. Auch dies vergeblich.

Der Tod ist groß und hell

Stattdessen ist sie, die Seele, in diesen aufwühlenden und zugleich sanften 90 Minuten zu finden. In der ungeheuren Präsenz der fünf Tänzerinnen und Tänzer. Die in jedem Augenblick ganz da sind und so ungeheuer fließen können. Zwischen Leben und Tod, Ernst und Spiel, Traurigkeit und Humor. Die jeden einzelnen Moment, beinahe wie im Butoh, mit äußerster Genauigkeit gestalten lassen.

Die Wurzeln des japanischen Ausdruckstanzes Butoh reichen bis in die 1920er-Jahre und den modernen deutschen Ausdruckstanz zurück. Und ähnlich wie die deutschen Tänzer der Vorkriegszeit vollzieht der Butoh den Bruch mit den rationalen Prinzipien der Moderne. Was dabei entsteht, lässt sich poetisch umschreiben als die Entdeckung des dunklen Körpers.

In „Mephisto Walz“ ist der Tod sehr groß, sehr hell – und er lächelt. Was man schon oft gehört oder gelesen hat, bei Adassinsky kann man es sehen und spüren. Und: Er schwingt seine Sense elegant und zudem überaus mühelos. Wie viel brutaler fühlte sich da das Angekettetsein des Todkranken an seine irdischen Plastikschläuche und -masken an.

Astrid Priebs-Tröger

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