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Deutschlandpremiere. Die Tänzerin und Choreografin Nadia Beugré von der Elfenbeinküste eröffnet heute mit „Legacy“ das Festival Made in Potsdam.

© Grit Weirauch

Tanz-Festival "Made in Potsdam": Das nackte Sein als Waffe

Beim Tanz-Festival "Made in Potsdam" in der Schiffbauergasse geht es heute vier Tage lang um die Existenz. Nadia Beugré eröffnet das Festival mit ihrem Stück „Legacy“.

Nacktheit ist für Nadia Beugré das letzte Mittel. Die letzte Patrone, wie sie auf Französisch sagt. Der letzte Schuss. Denn der unbekleidete Körper steht hier nicht etwa für zwischenmenschliche Nähe oder Intimität, sondern schlichtweg für Kampf. Das nackte Sein ist Beugrés stärkste Waffe.

Wie für die Frauen der Elfenbeinküste, wo sie herstammt. Wie in dem Tanz Adjanou, ein Ritual des Volkes der Baule in ihrem Land. Nadia Beugré bringt es zur Eröffnung der diesjährigen Made in Potsdam auf die Bühne der fabrik, in ihrem Stück „Legacy“ – zu Deutsch „Erbe“. Adjanou ist ein heiliges Ritual. Für Männer tabu und selbst für Nadia Beugré, wie sie in ihren Recherchen in der Elfenbeinküste erlebte, schwer zugänglich. Wenn die Frauen Adjanou tanzen, nackt, verstecken sich die Männer, um dem Anblick der Körper zu entgehen – aus Angst vor Dämonen, die von ihnen Besitz ergreifen könnten. Die Nacktheit, heute in westlichen Gesellschaften Mittel der erotischen Verführung, ist dort Verführung im ganz ursprünglichen Sinne: ein in die Irre Führen. Die Frauen tanzen, die ältesten unter ihnen, wenn eine Gesellschaft zu kippen droht, sie tanzen, um die bösen Geister zu verjagen und um die Gemeinschaft zu stärken – ein Ritual, um Krieg abzuwenden.

Diesen Kippmoment wähnt Nadia Beugré auch heute: Der Zustand der Welt sei schlimm, sagt sie. Nicht nur in ihrem Heimatland. „Charlie Hebdo, Berlin, Syrien sind nicht die Elfenbeinküste.“

Ihr Stück „Legacy“ ist keine bloße Reproduktion dieses Rituals, sondern eine Transformation. Es ist auch Beugrés eigenes Adjanou. Als Muslimin erzogen, sei es für sie hart gewesen zu lernen, die eigene Nacktheit zu ertragen, sagt sie. Vor ihrem ersten Auftritt als einzige „Black“ unter weißen schlanken Frauenkörpern hätte sie fast kapituliert. Die Bühne diente auch ihr als Ort, sich von Ängsten und Widerständen zu befreien.

Nadia Beugré hat keine klassische Tanzausbildung absolviert. Auch ihr Körper ist eher ungeschliffen, dafür ungemein kraftvoll. Nicht eine spezifische Technik oder einen bestimmten Stil zu suchen, steht im Mittelpunkt ihrer Arbeit, sondern das bloße Tanzen. „Das Rohe ist das Direktere, das Konkretere.“ Es seien vor allem die Begegnungen mit Künstlern gewesen, die ihren Weg beeinflussten: mit Choreografen wie Alain Buffard, der sie entdeckte und in dessen Compagnie sie bis zu seinem Tod 2013 tanzte, und Germaine Acogny in der von ihr gegründeten École de Sable im senegalesischen Dakar.

In „Legacy“ tanzt Nadia Beugré wie in all ihren anderen Stücken („Quartiers libres“, 2012) selbst. Diesmal erstmalig mit anderen: zusammen mit der senegalesischen Tänzerin Hana Hedman, aber auch mit Amateurinnen. In jeder Stadt, in der „Legacy“ aufgeführt wird, lädt sie Frauen, die sich der Herausforderung stellen, mit nacktem Oberkörper auf der Bühne zu sein, wenige Wochen zuvor zum Workshop. So auch für die Deutschlandpremiere in Potsdam. Rund dreiviertel des Stückes gehört diesen Frauen. Sie rennen. Bis zur Erschöpfung. Dabei interessiert Nadia Beugré weniger der Deutungsspielraum des Rennens. Vielmehr soll es jede einzelne von ihnen in einen bestimmten Zustand versetzen, den Beugré versucht erlebbar werden zu lassen.

Zugleich ist „Legacy“ eine Hommage an jene Frauen, die in der Geschichtsschreibung nicht auftauchen. Die starken Frauen Afrikas. Das Schwarze habe sie gesucht, sagt sie. Das afrikanische Pendant der Jeanne d’Arc, jene, wie sie sagt, Hexenfrauen, die die Kraft besitzen, etwas zu bewirken, wie ihre eigene Großmutter oder die mythische Königin von Angola, Poku, die ihren Sohn opferte, um ihr eigenes Volk zu retten. Oder wie die Frauen des Marsches von Grand-Bassam. Im Jahre 1949 legten sie den 40 Kilometer langen Weg von der Hauptstadt der Elfenbeinküste, Abidjan, bis zu dem Gefängnis Grand-Bassam zurück, um ihre politisch inhaftierten Männer zu befreien und gegen das französische Kolonialregime zu kämpfen. Die Frauen wurden brutal kurz vor ihrem Ziel aufgehalten und von der bewaffneten Kolonialmacht massakriert, ihr Aufbegehren verschaffte ihnen immerhin einen geistigen Sieg, der bis heute in der Elfenbeinküste gewürdigt wird. Oder benutzt wird für politisch motivierte Manifestationen, die den Marsch der Frauen imitieren – in den Augen Nadia Beugrés eine verabscheuenswerte Manipulation.

Wie auch bei der Nacktheit verschieben sich bei Beugré die Konnotationen beim Begriff des Feminismus: Mit dem Kampf der Frauen verbindet sie nicht nur den gegen Unterdrückung und für die eigenen Rechte, sondern den, den die Frauen führen – auch, wie im Fall von Grand-Bassam, für die Männer. In den Fokus rückt sie dabei deren Entschlossenheit, in ihrer historischen Dimension und in der Kontinuität der Geschichte. „Es ist nicht mehr die Stunde des langen Marsches, sondern des Rennens“, sagt sie.

In der Stadt Grand-Bassam zeugen heute Monumente von dem Aufbegehren im Jahre 1949. Es sind Statuen von Frauen in Kampfpose. Nadia Beugré würde ein anderes Denkmal erschaffen, sagt sie: einen Berg aus jenen Büstenhaltern, die die Frauen abgestreift haben.

„Legacy“ heute und morgen um 20 Uhr in der fabrik, Schiffbauergasse 10

Grit Weirauch

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