zum Hauptinhalt
Silvia Gribaudi.

© Sebastian Gabsch

Tanz bei "Stadt für eine Nacht": „Wir sind Sklaven unserer Erwartungen“

Im Rahmen von „Stadt für eine Nacht“ zeigt die Choreografin Silvia Gribaudi zwei Tanzperformances in der fabrik in Potsdam. Ein Gespräch mit der Italienerin über gängige Schönheitsideale und die Bedeutung von Humor.

Von Helena Davenport

Frau Gribaudi, Ihr Tanzstück „A Corpo Libero“ soll die Unzulänglichkeiten des weiblichen Körpers thematisieren. Welche Unzulänglichkeiten sind denn hier bitte gemeint?
 

Eigentlich handeln alle meine Performances von diesem Thema. Bei „A Corpo Libero“ tanzt allerdings nur das Fleisch – es nimmt also die Rolle des Tänzers ein. Normalerweise ist es so: Wir alle können unsere Muskeln benutzen, aber unsere Gesellschaft lehnt das Fleisch ab, das auch zu unseren Körpern gehört. Weil es unvollkommen ist, nicht perfekt. Wie kann man also mit dem Fleisch tanzen? Danach frage ich. Und welche Bedeutung hat generell der Körper in unserer Gesellschaft? Ich versuche, alle Körperteile zu entdecken. In „A Corpo Libero“ arbeite ich mit meinem Speck.

Wie sind Sie dazu gekommen?

Ich war eine Balletttänzerin. Aber als ich 28 Jahre alt wurde, begann mein Körper sich zu verändern. Ich habe mich dann gefragt, was ich tun kann – als Tänzerin und auch als Choreografin. Ich wollte mich frei fühlen in meinem Tanz und ich fand heraus, dass es doch möglich ist, mit diesen Unzulänglichkeiten zu tanzen. Es ist wirklich eine sehr lustige Performance geworden. Der Humor und sein Timing sind dabei alles.

Ist das nicht absurd? Der Körper wird erst dann für perfekt erklärt, wenn er künstlich verändert wurde.

Genau. Aber je älter du wirst, desto größer kannst du werden (lacht). Es ist wahr: Ich brauche den Speck, sonst kann ich bald nicht mehr tanzen. Es liegt an meinem besonderen Ballett. Das Besondere an dem Stück ist, dass es natürlich auf der einen Seite durchchoreografiert ist, aber für die Leute vor allem deswegen kraftvoll erscheint, weil es wie ein Spiegel funktioniert. Es spiegelt auch die Kapazität unserer Selbstwahrnehmung wider, also wie wir uns fühlen. Ich möchte mit dem Stück sagen, dass wir sein können, wie wir eben sind, und dass wir sowieso schön sind. Wir können ruhig zeigen, dass jeder Teil unseres Körpers tanzen kann. Dazu wird übrigens „La traviata“ gespielt, in „Sempre libera“ geht es um die Freiheit. Der Kontrast ist groß: Diese Musik und dann diese Frau in Unterwäsche, die ihren Speck bewegt. Das kann sehr kraftvoll werden.

Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen der Art und Weise, wie sich ein Man in einem Raum bewegt und der Art und Weise, wie sich eine Frau in einem Raum bewegt?

Ich denke, es ist dieselbe Art und Weise. Es hängt natürlich von dem Land ab. In Süditalien zum Beispiel sind die kurvigen Frauen beliebt, sie gelten als schön. Als sie dort meine Performance sahen, fingen sie an zu rufen: „Das ist großartig, das sieht sexy aus!“ In Mailand wiederum musst du dünn sein. Für Männer gilt dasselbe. Auch sie altern und müssen sich damit arrangieren. Die Auswirkungen sind natürlich anders. Und es hat auch etwas damit zu tun, ob der Mann heterosexuell ist oder homosexuell. Die heterosexuellen Männer zerstören außerdem das Frauenbild. Ich bin übrigens lesbisch. Was ich sagen will: Es hängt immer davon ab, was du um dich herum hast. Davon hängt auch ab, welche Wirkung der Körper hat.

Welche Erfahrung haben Sie mit dem Publikum gemacht?

Kinder lieben das Stück – es findet draußen statt. Sie stellen sich vor mich und kopieren mich. Sie haben eben keine Stereotypen im Kopf. Es geht mir darum, Erwartungen zu zerstören – das wird deutlich, wenn man Claudia Marsicano sieht, im zweiten Stück „R.osa“.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Das Stück heißt „R.osa – Exercise for new Virtuosities“ (Übung für neue Virtuositäten). Wie ist das gemeint?

Ich habe mich von der italienischen Choreografin Francesca Pennini inspirieren lassen. Sie hat dieses Stück konzipiert, ein Mini-Standartballett sozusagen. Es besteht aus zehn Übungen. Sie hat sich allerdings einen muskulösen Tänzer ausgesucht und ich war neugierig zu sehen, wie dasselbe Stück wirkt, wenn es ein dickerer Mensch tanzt. Andererseits habe ich mich von der Gesellschaft inspirieren lassen: Du musst schwimmen gehen oder im Fitness Center Sport machen. Es geht immer um Übungen, auf jedem Feld muss man üben. Schon in der Schule übt man – mit dem Ziel, der Beste zu sein. Jeder will der Beste sein. Ich mag es, damit zu spielen: In dem Stück wird geübt, etwas zu sein, das normalerweise nicht als das Beste angesehen wird. Wenn man diesen Körper auf der Bühne sieht, ist es vielleicht nicht einfach, diesen zu akzeptieren. Aber Claudia Marsicano ist umwerfend, sie ist eine großartige Darstellerin.

Wie haben Sie sich kennengelernt?

Wir haben uns in Italien getroffen, sie hatte bei einem Workshop mitgemacht. Da habe ich sie gefragt. Eigentlich ist sie Schauspielerin, eine sehr junge mit ihren 27 Jahren. Aber sie hat schon einige Preise gewonnen. Für „R.osa“ hat sie den Preis für die beste Darstellerin Italiens unter 35 Jahren erhalten. Es ist ihre erste Tanzperformance. Besonders interessant ist es, zu sehen, wie die Leute sie auf der Straße ansehen, und wie sich diese Reaktion dann verändert, wenn Claudia auf der Bühne steht. Sie wird zu einem Star. Bei „R.osa“ geht es viel um Manipulation. Zuerst kommen die Zuschauer mit einer Erwartung herein und dann werden sie – ich entschuldige mich, dass ich das sagen muss – zu ihren Sklaven. Und dann wird im Umkehrschluss klar: Eigentlich sind wir alle Sklaven unserer Erwartungen. Es stimmt wirklich, alle himmeln sie nach der Vorstellung an. Aber sie ist einfach eine sehr gute Darstellerin.

In Silvia Gribaudis Stück „R.osa – Exercise for new Virtuosities“ tanzt die italienische Schauspielerin Claudia Marsicano.
In Silvia Gribaudis Stück „R.osa – Exercise for new Virtuosities“ tanzt die italienische Schauspielerin Claudia Marsicano.

© Laila Pozzo

Hatte sie jemals Probleme mit ihrem Körper?

Nein. Sie wird öfter nach der Vorstellung von dem Publikum gefragt: Wie hast du zu dieser Größe gefunden? Ich würde dann sagen: Oh, ich habe die Frage nicht verstanden. Aber klar, man weiß nie, ob im eigenen Körper Krankheiten schlummern. Sie ist ziemlich dick und vielleicht muss sie irgendwann ihren Lebensstandard ändern, aber im Moment fühlt sie sich sehr gut.

In dem Stück geht es um Frauenrollen. Würden Sie mehr verraten?

Ich muss erst einmal etwas sagen: Ich mache Performances, weil ich gern mit Darstellern zusammenarbeite. Ich habe mit Claudia angefangen zu arbeiten – und dabei kam es dazu, dass wir dachten, das Stück passt gut zu unserer Gesellschaft. Man braucht für jede Kunst, jede Performance einen Grund, eine Berechtigung. „R.osa“ ist 2015 entstanden, „A Corpo Libero“ im Jahr 2009. Heute interessiert mich die Präsenz von Männern. Ich denke, dass wir uns bezüglich der Stereotypen von Männern in einer großen Krise befinden. Sie dürfen nicht zu sensibel sein, aber auch nicht das Gegenteil. Klar, als Frauen müssen wir Druck ausüben. Ich meine, ich bin aus Italien – wir haben den Vatikan, die Männer regieren. Wir müssen Druck ausüben, um zu zeigen, dass wir am Leben sind. Aber wir alle müssen Druck ausüben, um Werte zu schaffen, nicht nur, um zu sagen, dass wir viele Probleme haben. Ich habe gemerkt, dass ich in der Kunst fähig bin, etwas zu erschaffen, was lustig und zugleich tiefsinnig ist.

Sie haben gesagt, dass Humor ganz entscheidend mitspielt. Kann das nicht auch gefährlich werden? Es geht schließlich um ein ernstzunehmendes Thema.

Ich weiß nicht: Ist es Humor oder Ironie? Man weiß nie, wie man es benennen soll. Da gibt es die Clownsfigur, aber die tanzt nicht. Für mich hat Humor wirklich mein Leben gerettet. Denn als mein Körper angefangen hat, sich zu verändern, hat mir Humor meine Richtung als Tänzerin aufgezeigt. Ich denke deswegen, dass Humor unsere Gesellschaft retten kann. Denn wenn der Witz gut ist, kannst du alles sagen, was du willst, und tust das in einer guten Weise. Es ist sehr schwierig, das zu studieren. Es kann auch aggressiv wirken. Für mich ist es eine gute Möglichkeit, im Dialog zu sein, mit der Gesellschaft, in der Kunst. Dabei sind meine Grenzen real. Ein Clown arbeitet mit Fehlern, alles, was er tut, ist fantastisch. Ich richte mich nach dem, was ich sehe.

„A Corpo Libero“ ist bereits zehn Jahre alt. Hat sich die Rezeption verändert?

Die Leute waren 2009 sehr offen, heute brauchen sie mehr Zeit. Sie sind ängstlicher. Meine Theorie ist, dass wir alle Facebook viel zu intensiv benutzen. Man ist es nicht mehr gewohnt, einen Körper von Nahem zu sehen. Nun bin ich sehr neugierig, wie die Performance hier in Potsdam ankommt. Die Schiffbauergasse finde ich toll, wie ein Paradies. Es wird auch wegen des Unterschieds interessant: „A Corpo Libero“ war für den Innenraum konzipiert, aber ich habe es dann nach draußen geholt, es fand auch schon in einem Supermarkt statt. „R.osa“ hingegen findet drinnen statt.

>>„A Corpo Libero“ am Samstag um 17 Uhr, open air in der Schiffbauergasse; „R.osa – Exercise for new Virtuosities“ am Samstag um 20 Uhr, fabrik

Zur Startseite