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J'ai pleuré avec les chiens

© Stephanie Paillet/Promo

Tanz aus Kanada feiert Deutschlandpremiere an der fabrik: Die mit den Hunden heulen

Jaulen, Knurren, Bellen: Die Choreografin Daina Ashbee schält mit „J’ai pleuré avec les chiens“ bei den Potsdamer Tanztagen das Tier aus dem Menschen heraus.

Potsdam - Vor zwei Jahren brachte die junge kanadische Choreografin Daina Ashbee eine Schlangenliturgie nach Potsdam. Damals zeigte sie bei den Tanztagen „Serpentine“: ein Solo-Stück, auf der Bühne nur ein feuchter Boden und eine nackte Frau. Später Orgelmusik. „Serpentine“ war quälend langsam, still, verstörend, mäanderte zwischen Meditation und Brutalität.

Jetzt ist Daina Ashbee zurück bei den Potsdamer Tanztagen. Nicht mit Schlangen im Gepäck, sondern mit Tieren, die wilder und zahmer zugleich sind. Der Titel der deutschen Erstaufführung, „J'ai pleuré avec les chiens“, heißt auf Deutsch: Ich habe mit den Hunden geheult. Sechs Tänzer:innen sind diesmal beteiligt, ein Mann, fünf Frauen. 

Die Hunde fiepen, grummeln, grunzen, knurren, leiden

Zunächst sehen sie aus wie Besucher:innen, sitzen im Publikum. Stehen auf, krabbeln quer über die Bühne, setzen sich wieder hin. Das Saallicht in „J’ai pleuré avec le schiens“ bleibt lange an. Auch als die Tänzer:innen sich ausziehen, um nackt weiter die Bühne abzuschreiten, auf allen Vieren. Auch als eine Stimme aus dem Off von Heilung zu reden beginnt. Davon, dass jede Krankheit von jedem Menschen letztendlich selbst gemacht, sogar selbst gewählt worden sei. 

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Und auch davon, dass man, Achtung, Achtung, zu einhundert Prozent verantwortlich sei für alles in seinem Leben. Gutes wie Schlechtes. Irgendwann übertönt das Heulen von Hunden die unerträgliche Stimme der Heilerin. Die Hundestimmen fiepen, grummeln, grunzen, knurren. Sie flehen. Sie leiden. Die Menschen auf der Bühne tun es ihnen nach. Sie knurren, ächzen, immer auf allen Vieren, immer in Bewegung. Sie schwitzen. 

Auch als Zuschauerin wird man geschüttelt

Mit starren Blicken sehen sie ins Publikum, das ihnen, platziert an allen vier Bühnenseiten, zum Käfig geworden ist. Später bellen sie. Nicht neckisch, nicht probeweise, sondern ausdauernd, von tief drinnen. Man kann die Muskeln und Rippen dabei beobachten. Kann sehen, wie es die Körper schüttelt.

Auch als Zuschauerin wird man von „J’ai pleuré avec les chiens“ geschüttelt, momentweise auch erschüttert. Der Ernst, die Absolutheit, mit der die sechs Tänzer:innen sich in den hündischen Gestus stürzen, so die Grenzen zum Menschlichen abtasten und auch überschreiten, ist ergreifend, verstörend: ein Mensch als Hund sieht unterworfen aus. 

Widerständige, fast bestialische Wesen

Eine nackte Frau auf allen Vieren weckt Gedanken an sexualisierte Gewalt. Ashbee aber, die eigener Aussage nach nicht an einer Mann/Frau-Unterscheidung, dafür aber sehr am postkolonialen Diskurs interessiert ist, geht weiter: Sie zeigt nackte Frauen auf allen Vieren, die bellen, tönen oder brüllen. Widerständige, fast bestialische Wesen. Männer oder Frauen? In der Dynamik auf der Bühne ist das fast egal.

Ein erstaunlicher Effekt, denn: Selten dürften im zeitgenössischen Tanz Vaginen so explizit gezeigt worden sein. Es klaffen Poritzen und Schamlippen auf, immer wieder verharren die Tänzer:innen in exponierten Positionen. Nicht sexualisiert, sondern stilisiert. Da sind sie schon längst keine Hunde mehr, sondern haben sich übereinandergestapelt, testen über- und aneinander akrobatische Figuren aus, die von berückender Schönheit sind. 

Nur keine schlichte Fortschrittserzählung

Sie halten einander fest, flüstern sich Absprachen zu, mal verrutscht etwas und sie lachen. Die Herde ist zur Menschengruppe geworden – und sie wird wieder zur Herde werden. Was Ashbee am wenigsten will, ist eine schlichte Fortschrittserzählung vom Animalischen zum Gezähmten. Am Ende dominiert das Heulen. Ob Mensch, ob Tier ist kaum zu sagen. 

Nochmals am Mittwoch, 18. Mai um 20 Uhr in der fabrik Potsdam

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