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Kultur: Täter, Schaf, Opfer

Betreten auf eigene Gefahr! Die Schausteller haften nicht für Personen-, Sach- oder Seelenschäden: Das war deutlich sichtbar am Donnerstagabend im Foyer der „fabrik“ zu lesen.

Betreten auf eigene Gefahr! Die Schausteller haften nicht für Personen-, Sach- oder Seelenschäden: Das war deutlich sichtbar am Donnerstagabend im Foyer der „fabrik“ zu lesen. Und bevor man in die Premierenvorstellung von „Chambers of Horrorcircus“ eingelassen wurde, musste man sich einer „ärztlichen“ Untersuchung unterziehen. Eine Puppe mit Brille, Stethoskop und Fistelstimme befand darüber, ob man in die Gruppe der Täter, Opfer oder Schafe gehörte. Öffentliche „Kennzeichnung“ inklusive.

Mehrere Schreckenskammern waren zu durchwandern. Gruppenweise wurde man mit skurrilen, subtilen, berührenden und abstoßenden Bildern konfrontiert: Die fußlose Puppengestalt im Spiegelkabinett versucht verzweifelt den Erdball aus einem Vogelkäfig zu befreien, eine „Hexe“ hat in ihrer Wohnhöhle das Elend dieser Welt in Kisten gesammelt und eine weißgekleidete Frau harkt eine Sandwüste, in der immer wieder versunkene Grabkreuze sichtbar werden. Und der Höhepunkt: Eine augenscheinlich todkranke Kinderfigur erwehrt sich mit finalem Stoß den enervierend-fröhlichen Zumutungen einer Kasperpuppe.

Diese dichte Collage aus Geräuschen, Musik, Gerüchen, verschiedenen Sprachen, Lichtstimmungen und zusätzlichen Bildern, die über unzählige Bildschirme flimmerten, strapazierte alle Sinne der Besucher. Erlebbar in einem beeindruckenden Bühnenraum, den Sylvia Heilgendorff mit einfachsten Mitteln geschaffen hatte. Doch das war erst der Auftakt. Denn nach einer halben Stunde sammelten sich in Gregorio Amicuzis rasant die Stimmungen wechselnder Inszenierung „Täter“, „Opfer“ und „Schafe“ in einer Arena, die von Fernsehbildschirmen und metallenen Absperrzäunen geprägt wurde. Jetzt erst ging die eigentliche Show los, moderiert von einer üppigen Blondine im roten Kleid. Und während einem hier das geballte Elend dieser Welt deutlich erkennbar medial nahegebracht wurde, hatte man sich vorher wie in einer eigenen (Alb)-Traumwelt befunden.

Das fühlte sich an wie im abendlichen Fernsehprogramm, durch das sich jeder stundenlang zappen kann: Demütigung, Mord und Vergewaltigung neben Wetterbericht, Werbung und Unterhaltung. Ohne Unterlass, an heftigen Brüchen kaum zu überbieten. Randvoll und leer zugleich fühlte man sich danach. Die anfängliche Voyeurshaltung wich immer mehr Überdruss und Ekel. Und ehe man es sich versah, war man selber zum Schaf respektive Opfer geworden. Gerade im Umfeld des 11. September eine starke Vorführung! Hatten doch die Fernsehbilder vor acht Jahren in Sekundenschnelle für die Verbreitung des realen Schreckens rund um die Welt gesorgt. Doch je öfter sie (kommentiert) über uns kamen, umso weniger berührten sie uns.

Gregorio Amicuzis führt auch diesen Effekt gekonnt vor. Und: Das Erleben der eigenen Ohnmacht im Theaterraum hat Nachwirkungen. Erst mit Verzögerung wird man sich des eigentlichen Schreckens bewusst. Die Darsteller agierten mit überzeugendem Körper- und Stimmeinsatz und großer Wandlungsfähigkeit. Sie trugen wie die zahlreichen anderen Mitwirkenden – Video: Martin Wolf, Musik: Jan Barahona Munoz, Licht: Jens Siewert – zum atmosphärisch dichten, multimedialen Gesamtspektakel bei. Dass sich am Ende niemand verbeugte, war sicher nicht dem verhaltenen Beifall, sondern dem Konzept der Inszenierung geschuldet. Astrid Priebs-Tröger

Weitere Vorstellungen am heutigen Samstag, 20 und 23 Uhr, in der „fabrik“, Schiffbauergasse

Astrid Priebs-Tröger

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