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Susan Neiman.

© Bettina Volke

Susan Neiman im PNN-Interview: „Es wird vermittelt: Erwarte nichts vom Leben“

Susan Neiman, Chefin des Potsdamer Einstein Forums, plädiert fürs Erwachsenwerden. Sich anzupassen meint sie damit nicht

Frau Neiman, Ihr jüngstes Buch heißt „Warum erwachsen werden“. Sie selbst sollen die High School abgebrochen haben, um gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren. Wann sind Sie erwachsen geworden?

Naja, das steht so bei Wikipedia, darauf hat man leider absolut keinen Einfluss. Einiges, was da steht, stimmt, einiges nicht. Ich habe die Schule mit 14 Jahren abgebrochen, ja. Und natürlich habe ich gegen den Vietnamkrieg demonstriert, wie Millionen andere auch. Aber es ging damals um viel mehr. Ich lebte damals in einer Kommune, habe gedacht, dass die Weltordnung sich ändern könnte. Wir waren leider naiv, was die Verwandlungsfähigkeit des Kapitalismus angeht. Aber es ging mir damals nicht nur darum, gegen den Vietnamkrieg zu protestieren, sondern darum, für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen.

Aus Erwachsenensicht – zumindest nach allgemeiner Deutung – ist es nicht besonders erwachsen, die Schule abzubrechen.

Ich bin inzwischen zu der Meinung gelangt, wir sollten nicht von „Erwachsensein“ sprechen, sondern eher von „Erwachsenwerden“. Denn es ist ein Prozess. Wenn man erwachsen wäre, hieße das ja, man würde nicht mehr wachsen. Und das wollen wir ja nicht. Es gibt also keinen Punkt, an dem ich gesagt hätte: Jetzt bin ich erwachsen. Oder an meinem 50. Geburtstag vielleicht. Das Ganze hat aber mit bestimmten Wegmarken nichts zu tun. Der erste Beruf, das erste Kind, der Tod der Eltern. All das hat nichts mit dem zu tun, was ich unter Erwachsenwerden verstehe. Mir geht es um das Selbstdenken, was Kant schon beschrieb. Der Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und darum war mein damaliger Ausbruch aus der Schule gerade ein Teil des Erwachsenwerdens.

Die Schule hält uns unmündig?

Das hatte damals vielleicht auch damit zu tun, dass es keine passende Schule gab – und wie man weiß, habe ich ja auch einiges später nachgeholt. Aber es war interessant, das dann bei meinen eigenen drei Kindern zu beobachten. Ich war nie mit den Schulen zufrieden – und meine Kinder sind in drei verschiedenen Ländern zur Schule gegangen.

Und überall waren die Schulen schlecht?

Naja, überall hing es von ein paar engagierten Lehrern ab, die meist gegen das System gearbeitet haben. Die haben die Erfahrung Schule für meine Kinder gerettet. Aber wir wissen alle, dass das Schulsystem nicht in Ordnung ist. Meine Tochter, die eigentlich am intellektuellsten ist, hat gar nicht studiert. Sie ist Drehbuchautorin, und das, was sie durch Recherchen in der Filmindustrie gelernt hat, ist erstaunlich. Ich lerne viel von ihr. Ich plädiere für ungewöhnliche Biografien.

Weil man dann am besten lernt, wenn man von etwas begeistert ist, und nicht, wenn man muss?

Genau. Wobei gute Schulen schon helfen. Ich kenne einige, das sind aber meist Privatschulen – und das ist dann wiederum ein gesellschaftliches Problem.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Schulen Kinder zum Blühen bringen können – aber auch zum Welken.

Das Problem ist: In allen Bereichen, die uns zum Erwachsenwerden bringen sollen – Bildung, Reisen, Arbeiten – gibt es strukturelle Probleme. Die sind derzeit alle so strukturiert, dass sie das Erwachsenwerden eher unterminieren. Das ist ein gesellschaftliches Problem, das durch Einzelwiderstand nicht völlig zu lösen ist. Aber es muss mit dem Widerstand des Einzelnen anfangen.

Wie kann dieser Widerstand aussehen?

Erstens muss man die Bildung in die eigenen Hände nehmen, das ist ganz klar. Ich plädiere für weniger Zeit im Internet. Weil das einfach eine ganz andere Art des Lesens ist und außerdem süchtig macht. Wenn man mal einen Tag lang sagt: Ich gehe nicht dran, ich lasse mich nicht abbringen von einer Nachricht, selbst, wenn es nur wenige Minuten sind, bestimmt man den eigenen Tag plötzlich. Was das Reisen betrifft, plädiere ich für wenigstens ein Jahr im Ausland – und zwar nicht unbedingt für ein Studium, sondern eher, um zu arbeiten.

Aber ist das Internet nicht auch eine gute – und vor allem klassenübergreifende – Möglichkeit, sich mit fremden Kulturen, mit neuen Ideen vertraut zu machen und sich mit Menschen vom anderen Ende der Welt auszutauschen?

Ja, ist es. Auch für mich. Gerade hat mein Sohn mich bei den Recherchen zu meinem neuen Buch auf ein Video auf YouTube aufmerksam gemacht, von 1965. Es ist ein Interview mit einem der größten schwarzen Schriftsteller Amerikas. Das hätte ich natürlich so nie gefunden – oder nur nach jahrelangen Recherchen in irgendwelchen Archiven. Es gibt also schon eine Menge Dinge im Netz, die erweiternd sind. Aber um zum Reisen zurückzukommen: Nichts gegen mal Abschalten am Strand – aber Urlaub ist für viele Menschen die Wieder-Infantilisierung, ganz wortwörtlich wieder im Sand zu buddeln. 

Es war noch nie so einfach und so billig, die Welt zu bereisen. Müssten wir nicht das Erwachsenwerden, das Sie meinen, alle längst leben?

Es stimmt zum Teil, dass gerade die Generation um die 30 internationaler geworden ist. Aber es geht eben nicht um eine Billigreise nach Thailand. Sondern darum, mal woanders zu arbeiten, mehrere Sprachen zu sprechen. Beim Bereich Arbeit ist es natürlich am schwierigsten. Ich plädiere wirklich dafür, auch mal Freiberuflichkeit auszuprobieren. Das ist etwas wirklich Deutsches oder Europäisches, dass man denkt: Ohne eine feste, sozialversicherte Anstellung ist man nichts. Das ist wirklich absurd. Auch wenn ich natürlich nicht für US-amerikanische Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt bin. Ich wäre wahrscheinlich für etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das würde sehr viel lösen. Aber das ist natürlich nichts, was der Einzelne durchsetzen kann.

Was genau würde das verbessern?

Es geht darum, dass erwachsene Menschen ein Stück der Welt bewegen – und nicht nur hinnehmen. Anweisungen des Chefs hinnehmen, Hinweise aus den Reklamen, was man alles kaufen soll. Ich kenne Menschen, die ganz normale Stellen haben, die sich aber in ihrer Freizeit für Flüchtlinge, für Süchtige, für Stadtplanung engagieren. Das heißt, man muss nicht alles über den Job lösen. Wichtig ist, dass man etwas im Leben macht, das einem das Gefühl gibt, nicht nur passiv zu sein. Die Welt ein kleines bisschen besser machen zu können.

Das meinen Sie mit Erwachsenwerden – aber das ist wohl nicht das, was die meisten darunter verstehen. Für die meisten klingt der Begriff eher nach: Ich muss mich anpassen, funktionieren.

Es stimmt, wir haben kein gutes Bild vom Erwachsenwerden. Es ist für viele identisch mit einem Resignieren. Mit dem Akzeptieren des Status Quo. Deshalb idealisieren wir die Kindheit. Interessanterweise gibt es kein Kind – außer dem märchenhaften Peter Pan –, das nicht erwachsen werden will. Weil das Kind glaubt: Wenn ich erwachsen werde, habe ich viel mehr Kraft, viel mehr Macht.

Und wenn wir dann alt genug wären, um erwachsen zu sein, sehen wir es eher andersherum.

Ja, wir haben diese Vorstellung: Kind sein bedeutet permanentes Staunen. Wer aber wirklich viel Zeit mit kleinen Kindern verbringt, der weiß: Da ist vor allem viel Frustration, viel Wut, viel Angst. Natürlich gibt es schöne Momente. Aber es ist kein Zustand, den ein vernünftiges Wesen – und die Kinder selber sind so vernünftig – auf Dauer aushalten möchte. Dann wird diese spätere Phase, so zwischen 18 und 28 idealisiert. Aber ich kenne niemanden, der diese Zeit hinter sich gelassen hat und dorthin zurück möchte. Das ist ja eine wirklich schwierige Zeit, weil man die ersten eigenständigen Entscheidungen trifft. Weil man aber keine Erfahrung mit Entscheidungen hat, fühlt sich jede schicksalhaft an.

Weil man denkt: Wenn ich das falsche Studium, die falsche Liebe wähle, ist mein Leben verpfuscht?

Ja. Später weiß man: Man darf Fehler machen, neue Wege einschlagen. Also, diese Zeit ist hart, auch wenn immer alle sagen, das sind die besten Jahre deines Lebens. Dabei ist man unsicher und zerrissen. Aber es wird uns immer vermittelt: Es wird alles immer schwieriger, erwarte nichts vom Leben. Das ist der springende Punkt.

Warum vermittelt man uns das?

Ich glaube – und deshalb bin ich wieder auf Kant zurückgekommen – alle kennen seinen Satz von der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und es stimmt schon, was er sagt: Unsere Unmündigkeit ist oft selbst verschuldet. Weil wir faul sind und feige und weil es einfacher ist, andere für uns denken zu lassen, als es selbst zu tun. Aber was ich wahnsinnig interessant fand, als ich mich mit seinem Text wieder beschäftigt habe, ist, wie wenige Menschen die Zeilen danach offenbar gelesen haben. Da sagt er, die Gesellschaft will keine erwachsenen Menschen. Keine mündigen Menschen. Weil es viel einfacher ist, infantilisierte Menschen zu beherrschen denn mündige Bürger.

Das galt im Absolutismus – aber heute?

Klar. Ein Beispiel: Malala. Zu Recht hat sie den Friedensnobelpreis bekommen, dafür dass sie ihr Leben dafür riskiert hat, dass auch Mädchen Bildung genießen. In diesem Sommer hat sie eine kaum beachtete Rede gehalten, in der klar wurde: Sie hat ihre Bildung dafür benutzt, auszurechnen, dass man alle Kindern der Welt zwölf Jahre lang bilden könnte, wenn die Waffenindustrie ihre Profite nur acht Tage lang spenden würde. Das ist tatsächlich eine erwachsene Frage: Warum funktioniert das nicht, warum gibt es keine demokratischen Mechanismen, die das bewirken – oder gleich die Waffenindustrie insgesamt infrage stellen?

Viele würden ihr eher Naivität vorwerfen.

Das sind aber die Fragen, die Erwachsene interessieren müssten. Dass dem nicht so ist, hat auch damit zu tun, dass wir vorher jahrelang gehört haben, erwachsen sein heiße, solche Fragen sind nicht zu stellen. Die Strukturen sind zu akzeptieren – und übrigens: Der Arbeitsmarkt ist so hart, dass wir schon Glück haben, wenn wir überhaupt einen Arbeitsplatz finden. Also bloß keine Strukturfragen stellen.

Kann es nicht vielleicht die Angst vor der eigenen Sterblichkeit sein, die uns so an der Kindheit klammern lässt?

Ich glaube, es ist eher die Angst vor dem Leben als vor dem Tod, die einen vom Erwachsenwerden abhält. Die Lust, die Welt zu umarmen und zu entdecken, die ist eigentlich jedem Kind angeboren. Woher die Angst später dann kommt? Sie hängt, denke ich, auch mit der Ängstlichkeit der Eltern zusammen. Das ist den Kindern nicht angeboren.

Der Handlungsauftrag lautet also: Nicht akzeptieren, dass alles so ist, wie es ist?

Genau!

Das Interview führte Ariane Lemme

ZUR PERSON: Prof. Dr. Susan Neiman, geboren 1955 in Atlanta, Georgia, ist Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Sie studierte Philosophie in Harvard und an der FU Berlin. Bevor sie 2000 ans Einstein Forum kam, war sie Professorin für Philosophie in Yale und Tel Aviv. Neiman ist Autorin von unter anderem „Slow Fire: Jewish Notes from Berlin“, „The Unity of Reason: Rereading Kant“, „Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie“, „Fremde sehen anders“ und „Moralische Klarheit: Leitfaden für erwachsene Idealisten“. Ihr neuestes Buch heißt „Warum erwachsen werden?“. Neiman hat drei erwachsene Kinder. Sie lebt in Berlin.

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