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Auf den Wassern der Revolution. Herbert Marcuse 1968 in Venedig.

© picture-alliance / dpa

Subversives Jubiläum: Vor 50 Jahren erschien Herbert Marcuses "Der eindimensionale Mensch"

„Der eindimensionale Mensch“ von Herbert Marcuse wird 50 Jahre alt. Als der Philosoph und Soziologe das Buch 1964 veröffentlichte, konnte er noch nicht ahnen, wie wichtig es für die 68er-Revolte weltweit werden sollte.

Überlagert von den monumentalen nationalen Jubiläumsritualen fand in diesem Herbst auch eine subversive Geburtstagsfeier statt. Der Hamburger Publizist Thomas Ebermann, der Schauspieler Robert Stadlober und der Musiker Andreas Spechtl erinnerten mit ihrem Bühnenstück „Der eindimensionale Mensch wird 50“ an das wohl wichtigste Werk des deutsch-amerikanischen Philosophen und Soziologen Herbert Marcuse. 1964 war die Originalfassung „The One-Dimensional Man“ in den USA erschienen, ein Abschiedsgeschenk, das der 66-jährige Professor seinen Studenten an der Brandeis University gewidmet hatte, bevor er an die University of California wechselte. Die Bedeutung, die dieses Buch für die weltweite 68er-Revolte einnehmen sollte, war damals noch nicht abzusehen. Zwar hatte sich Herbert Marcuse als Mitarbeiter des Exilinstituts von Horkheimer/Adorno und früher Gegner des Vietnamkriegs als oppositioneller Geist profiliert, doch in Deutschland war er noch so gut wie unbekannt.

Nur wenige kannten seine Aufsätze aus den dreißiger Jahren, bevor sie bei Suhrkamp unter dem Titel „Kultur und Gesellschaft“ nachgedruckt wurden. Erst 1967, als der „eindimensionale Mensch“ auf Deutsch erschien und Marcuse seine gesellschaftskritische Theorie auf „Teach- ins“ erläuterte, wurde das schlagartig anders. Allein zu seinen Auftritten im Audimax der FU Berlin kamen Tausende. Selbst wenn zu den jungen Zuhörern meist nur Schlagwörter wie „totale Manipulation des Individuums“ oder „Gesellschaft ohne Opposition“ durchdrangen, lauschten sie gebannt. Marcuse war dichter an den aktionistischen Bedürfnissen der Studentenbewegung als Adorno.

Was unterscheidet die gegenwärtige Kapitalismuskritik eines Thomas Piketty von Marcuse?

Ein wenig von dieser Aufbruchsstimmung war zu erahnen, als Ebermanns „Team Marcuse“ mit einer furiosen Multimedia-Collage überraschte. Der ehemalige Ökosozialist imitierte in seiner Einführung gekonnt den „Meister“, während Stadlober und Spechtl mit harten Dissonanzen eigene Songs und authentische Zitate mischten. Große Teile gingen im Lärm der Nebengeräusche unter, doch die Schlagwörter drangen auch hier durch. Im Programmheft heißt es: Marcuse „ätzte gegen die ,Hölle der Gesellschaft im Überfluss‘, den Deal aus wachsendem Konsum und Unfreiheit“. Keine dieser Fragen sei „veraltet“.

Was unterscheidet Marcuse von Thomas Piketty, dem neuen Superstar der Kapitalismuskritik, dessen Vorträge heute auch Tausende von Zuhörern anlocken? Auch Piketty prangert die „massive Ungleichheit“ der Bedürfnisentwicklung im Finanzkapitalismus an und bemängelt das Fehlen „demokratischer Kontrollinstanzen“. Doch seine Kritik bleibt ökonomisch und systemimmanent. Er glaubt, über Marktregulierung und steuerpolitische Ausgleiche soziale Gerechtigkeit herstellen zu können. Ein Marxist im herkömmlichen Sinn war aber auch Marcuse nicht. In seiner Beschreibung der „eindimensionalen“ Industriegesellschaft kommt das revolutionäre Proletariat nicht mehr vor. „Der Kampf um die Lösung ist über die traditionellen Tendenzen hinausgewachsen“, schrieb er 1964. Und: „Die totalitären Tendenzen der eindimensionalen Gesellschaft machen die traditionellen Mittel und Wege des Protests unwirksam – vielleicht sogar gefährlich, weil sie an der Illusion der Volkssouveränität festhalten.“

Auch ökonomische Gleichschaltung verhindert eine Opposition gegen das Ganze

Auf den Wassern der Revolution. Herbert Marcuse 1968 in Venedig.
Auf den Wassern der Revolution. Herbert Marcuse 1968 in Venedig.

© picture-alliance / dpa

Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges entzieht sich Marcuse dem Lagerdenken, indem er mit der Kritik am „Sowjetmarxismus“ und mit der Tendenzbeschreibung des entwickelten Kapitalismus die negativen Aspekte beider Herrschaftssysteme an ihren Fehlentwicklungen misst. Denn „totalitär“ sei nicht nur eine „terroristische politische Gleichschaltung der Gesellschaft“, sondern auch eine „nicht-terroristische ökonomisch-technische Gleichschaltung“, die sich in der „Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen“ geltend mache. Sie beuge so „dem Aufkommen einer wirklichen Opposition gegen das Ganze“ vor.

Der Autor hebt einen vom traditionellen Marxismus nicht beachteten Aspekt hervor: die Manipulation des Individuums, seine Instrumentalisierung durch die „suggestive Kraft“ der Konsumwerbung. Dem setzt Marcuse das Prinzip der „Negation“ entgegen – einerseits die Verneinung durch Kritik, andererseits die Suche nach dem qualitativ Anderen. Dabei zeigt er sich relativ pessimistisch und betont die „affirmative“ Kraft des „eindimensionalen Denkens“.

Erst in den Schlussbetrachtungen seines Buches taucht das zentrale Schlagwort der „Großen Verweigerung“ auf. Bei seinem Appell zu einer „Negation in der politisch ohnmächtigen Form der ,absoluten Weigerung‘“ stützt Marcuse sich explizit auf den französischen Autor und Literaturtheoretiker Maurice Blanchot. Er bemüht ihn aber nicht im postrukturalistischen Kontext, sondern als Mitglied der Résistance und Initiator eines Manifestes, das französische Soldaten zur Gehorsamsverweigerung im Algerienkrieg aufrief. Marcuse zitiert aus Blanchots Aufsatz „Le refus“, der 1958 erschien: „Was wir ablehnen, ist nicht ohne Wert oder Bedeutung. Eben deshalb bedarf es der Weigerung. Es gibt eine Vernunft, die wir nicht mehr akzeptieren; es gibt eine Erscheinung von Weisheit, die uns in Schrecken versetzt; es gibt die Aufforderung zuzustimmen und sich zu versöhnen. Ein Bruch ist eingetreten. Wir sind zu einer Freimütigkeit angehalten, die das Mittun nicht mehr duldet.“

Zum 50. Geburtstag des „eindimensionalen Menschen“ hat Peter-Erwin Jansen bei zu Klampen eine Neuausgabe des Buches ediert (290 Seiten, 20 €). Im Nachwort berücksichtigt er auch die Erkenntnisse eines Seminars der Universität Heidelberg. In der Analyse der modernen digitalen Welt geht es den Studenten nicht nur um die „Entlarvung“ der Eindimensionalität von Facebook-Funktionen und Smartphone-Apps, sondern generell um die Freisetzung einer neuen Suchbewegung: „Wie kann Technik heute die Fesseln lösen, den Menschen aus eindimensionaler Arbeit und Freizeit zu entlassen? Wie können in freier Zeit seine wahren Bedürfnisse gefördert werden? Gibt es Opposition außerhalb der Eindimensionalität?“

Für das Frühjahr hat die Konzertagentur Seliger eine neue Tournee des „Team Marcuse“ angekündigt. Schließlich trägt Herbert Marcuses Grabstein auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin die Inschrift „Weitermachen!“.

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