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Stadt für eine Nacht in Potsdam: 30 000 Wasserflöhe

Das 24-Stunden-Festival „Stadt für eine Nacht“ ließ unterschiedlichste Herzen in einem Rhythmus schlagen. Die Besucher durften in diesem Jahr erstmals ihren Lieblingsbewohner mit einem Preis auszeichnen: Dem Sfen 2017.

Von Sarah Kugler

Potsdam - Das Herz des Wasserflohs klopft schnell. Vor allem dann, wenn er genug Einzeller um sich herum hat, die ihn ernähren. Und das hat er. Schließlich vermehren sich die kleinen Wesen in rasanter Geschwindigkeit. Flitzen hier und dort hin, teilen sich, ernähren sich, leben. So ähnlich wie die Besucher bei „Stadt für eine Nacht“ – kurz Sfen – dem 24-Stunden-Festival, das die Schiffbauergasse einmal im Jahr in ein großes Wimmelbild verwandelt. Auch sie lassen sich treiben, werden mit der Zeit immer mehr und nehmen Nahrung zu sich – kulinarische und kulturelle. Am vergangenen Wochenende waren Wasserflöhe und Besucher der Schiffbauergasse gewissermaßen sogar im gleichen Element unterwegs. Denn Sfen hatte mit „Wasser steht Kopf“ zum ersten Mal ein Motto. Was könnte besser passen an diesen Ort am Tiefen See?

Bei den 25 Bewohnern der traditionellen Hüttenstadt kam das Konzept gut an, wie Birgit-Katharine Seemann, Potsdams Fachbereichsleiterin für Kultur und Museum, am Samstag sagte. Viele Bewohner hätten sich speziell wegen des Themas beworben. Etwa die Schlaatzer Wildnis: Durch Mikroskope konnten Besucher dort das sonst unsichtbare Leben der im Schlaatz fließenden Nuthe bestaunen und dabei das Herz des Wasserflohs pulsieren sehen.

„Berlin ist gleichzeitig das beste und das schlimmste an Potsdam"

Das Herz des Publikums gewannen allerdings andere: In diesem Jahr durften Besucher das erste Mal ihre Lieblingsbewohner mit einem Preis, dem Sfen 2017, auszeichnen. Platz drei ging dabei an das Labor Blau von Lucas Haselmann und Julia Mallwitz, Platz zwei an die Herzensangelegenheit der Awo. Den mit 1000 Euro dotierten ersten Preis erhielt der Malomat der Potsdamer Mal- & Zeichenschule Kunstgriff 23 unter Leitung von Heike Isenmann. Ihre Hütte ist bereits ein Sfen-Klassiker, bei dem sich Besucher zeichnen lassen können. Dabei geht es nicht um das perfekte Portrait, den perfekten Strich, sondern vielmehr um den Spaß an der Kunst, den Fluss der Inspiration. Fast ein Sinnbild also für das Festival selbst, denn auch hier ist immer alles im unperfekten und deswegen so reizvollen Fluss. Kulturbegeisterte treffen auf Feierlustige. Die Zielstrebigen auf die Flanierer. Über 30 000 Besucher fanden sich am Wochenende zusammen. Weit mehr als im letzten Jahr, wie Seemann sagte. Die Neugier treibt sie alle her.

Etwa zwei Freundinnen, die sich nach der Vorstellung von Yasmina Rezas „Kunst“ im Hans Otto Theater tatsächlich darüber streiten, ob das handlungstragende Bild des Stückes nun Streifen hatte oder doch einfach nur weiß war. Oder das junge Paar, das sich nicht einigen kann, ob es noch länger durch die Schiffbauergasse streift oder nicht doch bei der alten Fachhochschule am Alten Markt vorbeischaut. Überhaupt ist das in der vergangenen Woche kurzzeitig besetzte Gebäude Thema vieler Gespräche. Ob die denn nicht alle Latten am Zaun hätten, sich für diesen Schandfleck einzusetzen – gemeint ist wohl die linke Szene – kommentiert eine ältere Dame erbost. Eine Gruppe Studenten diskutiert daneben heftig über das Stadtbild Potsdams. Der Tenor: Schließlich sei die DDR-Architektur doch für viele auch mit der Kindheit verknüpft. Schnell gleitet das Gespräch jedoch in die Schwierigkeiten der Feierkultur ab. Der Satz des Abends: „Berlin ist gleichzeitig das Beste und das Schlimmste an Potsdam.“ Gemeint sind damit die Veranstaltungen, die in Berlin ganz in der Nähe stattfinden, aber Potsdam eben auch zu einer etwas feiertoten Stadt machen würden. Da sei eine Veranstaltung wie Sfen doch wirklich mal ein Highlight. Die Teenager daneben interessiert derweil etwas ganz anderes: Wie setze ich mich richtig in Szene, um aufzufallen. Kurze Kleider, coole Jeans, heftiges Flirten. Und Abhängen. Zum Beispiel auf den Sofas in der Schinkelhalle, in der am Abend mit Tabeah und ihrer sphärischen Musik richtige Festivalstimmung aufkommt. Fast schade, dass die Band nicht im Freien spielt. Unter den Lichtern der hier für die Dauer des Festivals errichteten Stadt hätte ihre Melancholie sich über das ganze Gelände ausbreiten können. Eine andere Melancholie jedoch, nämlich die des diesjährigen „Artist in Residence“ Sjón, ist in der Schinkelhalle genau richtig angesiedelt. Der isländische Autor schafft gemeinsam mit der Mezzo-Sopranistin Ásgerour Júníusdóttir einen ganz eigen Kosmos der Stille. Abseits vom Trubel der Stadt.

„Irgendwie findet das ganze Leben hier statt"

Doch auch im Trubel können Besucher für sich sein. Am Ufer des Tiefen Sees etwa, vertieft in die Performances auf der schwimmenden Kulturbühne oder auch auf dem Floß der flunker produktionen, auf dem groteske Puppen „Das Bestiarium der Emotionen“ präsentieren. Am Sonntag finden Frühaufsteher beim Yoga ihre Mitte und begeben sich dann beim Tango an der Seebühne in sinnliche Zweisamkeit. Auch der Sfen-Klassiker „Silent Disco“ am Samstag bietet Alleinsein in der Menge, während die lauten Bässe des Drum-Clubs den Einzelnen mit der Menge verschmelzen lassen.

Gerade dieses Verschmelzen fasziniert den Intendanten des Hans Otto Theaters, Tobias Wellemeyer, der das Festival mit initiierte, jedes Jahr erneut, wie er am Samstag sagte. „Hier kommen so viele Genres zusammen und agieren in einer Positivität miteinander, die mich sehr rührt “, so Wellemeyer. Gerade diese positive Energie sei es, an die man glauben müsse. Genauso wie an die gegenseitigen Inspirationen. Etwa durch „Die Herde der Maschinenwesen“ auf dem Schirrhof, von der Wellemeyer so fasziniert ist, dass er sich staunend in die Zuschauermenge mischt. „Die möchte ich auch“, sagt er und ein fast jungenhaftes Lächeln huscht über seine Lippen. Letztendlich sei Sfen wie Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“, so Wellemeyer. Irgendwie findet das ganze Leben hier statt, auch ein Stück Kindheit. Zumindest für ihn.

Bei der späten Vorstellung des besagten Handke-Stückes finden sich dann tatsächlich alle zusammen: die Teenager, die Studenten, die jungen und die alten Paare. Und beim tosenden Abschlussapplaus glaubt man, ihre Herzen alle im Wellenschlag der Havel schlagen zu hören.

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