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Stadt für eine Nacht 2019: Langer Blick in den Kaffeesatz

Die diesjährige „Stadt für eine Nacht“ kommt auf vielen Ebenen sehr spirituell daher, lädt zum Innehalten ein und löst sich erstaunlich zeitig wieder auf.

Von Sarah Kugler

Potsdam - Zehn Minuten können eine sehr lange Zeit sein. Etwa beim Warten auf den Bus, während einer Zahnreinigung – oder beim intensiven Blickkontakt mit einem anderen Menschen. Anders als bei den ersten beiden Varianten, kann bei der dritten eine ganze Menge passieren. Was genau, das konnten die Besucher der diesjährigen „Stadt für eine Nacht“ (Sfen) am Wochenende herausfinden. 

Zum zehnten Mal findet das Kulturfestival in der Schiffbauergasse am Samstag und Sonntag statt, bei dem traditionsgemäß alle Kunstschaffenden vor Ort ihre Häuser öffnen, zahlreiche Veranstaltungen open air stattfinden und eine Stadt mit ganz verschiedenen Budenhäusern im Zentrum des Areals entsteht. Eines dieser Häuschen hat in diesem Jahr die „Remise – Werkstatt für Clownforschung“ bezogen. Weil der Blickkontakt für Clowns eines der wichtigsten Mittel ihrer Performance ist, laden sie Neugierige dazu ein, sich für zehn Minuten gegenüber voneinander niederzulassen und sich anzublicken. Einfach so. Ohne zu sprechen. Um den Alltag mal kurz auszublenden und ganz bei sich, beziehungsweise zu zweit zu sein, wie Clownin Angela Hopkins kurz erklärt. Stilecht bekommt jeder eine rote Nase gemalt, ein kleiner Gong ertönt und dann läuft die Sanduhr. 

Die zehnte "Stadt für eine Nacht" ist gut besucht. 
Die zehnte "Stadt für eine Nacht" ist gut besucht. 

© Sarah Kugler

Klar wird da am Anfang etwas gekichert, sich verlegen an der Nase gekratzt, doch dann festigt sich der Blick und das Treiben in der Schiffbauergasse verschwimmt. Der Kopf sortiert sich, macht sich frei, bricht aus aus seinem Gedankenkarussell. Allerdings nicht bei jedem. Ein 35-jähriger Potsdamer erzählt, er habe die laute Musik, die herumwuselnden Menschen auf einmal viel stärker wahrgenommen. Sein Gegenüber hingegen bemerkt unterschiedlich geformte Augen, ein intensives Grün – und spürt die eigenen Schweißtropfen unangenehm deutlich die Nase herunterlaufen, wie er sagt. 

Denn warm ist es am Samstag auch noch in den späten Abendstunden, obwohl Sfen in diesem Jahr erst Ende August und damit viel später als sonst stattfindet. Die Besucher hält das nicht vom zahlreichen Erscheinen ab – und die Stadtbewohner nicht von skurrilen Aktionen. Zwar ist die Bestattung von persönlichen Verlusten bei der Agentur Kunsttick.com & Investinrest.de kurz nach 21 Uhr bereits nicht mehr möglich, der nebenan aufgebaute Tempel der Visionen ist aber noch in Betrieb. Hier wohnt eine blauhaarige Hexe, die in die Zukunft blicken kann – und einen  Hänsel gefangen hält. 

Der Tempel der Visionen lockt mit allerlei Magischem. 
Der Tempel der Visionen lockt mit allerlei Magischem. 

© Sarah Kugler

800 Jahre muss der Arme in einem Käfig vor ihrem Haus sitzen – allerdings scheint ihm das nicht viel auszumachen. „Ich habe halt das Kleingedruckte im Vertrag nicht gelesen“, erzählt er. Fröhlich er unterhält sich mit allen, die sich zu ihm hinhocken, lässt sie seinen wächsenen pinken Hasen Alfons streicheln und teilt seinen Erdnussvorrat. „Das Gefängnis ist ja eigentlich nicht der Käfig hier“, sinniert er und tippt sich an den Kopf. „Sondern der hier.“ Vielleicht sollte auch er mal die Clownwerkstatt besuchen.

Oder sich für den nächsten Hexenvertrag einen guten Schutzzauber besorgen. Der ist bei einer Kollegin der Blauhaarhexe erhältlich, ebenso ein Liebeszauber. Ob der denn auch wirkt, möchte eine Besucherin wissen. „Oh der ist vom Schwarzmarkt und ganz stark“, die prompte Antwort. Überhaupt ist das Bedürfnis nach etwas Magie groß: auf der anderen Seite der Bude bildet sich vor dem Fenster der Kaffeesatz-Wahrsagerin eine Schlange. Einen kleinen Schluck des leicht säuerlichen dunklen Gebräus muss jeder Wartende trinken, dann die Tasse schwenken. Die Vergangenheit liegt auf der linken, die Zukunft auf der rechten Seite – was sie bringt, bleibt das Geheimnis jedes Einzelnen. 

Hänsel ist eingesperrt.
Hänsel ist eingesperrt.

© Sarah Kugler

Die unmittelbare Zukunft, nämlich die am Sonntag anstehende Landtagswahl, ist auch Thema: ein junger Mann ist so nervös deswegen, dass er sich auf nichts richtig konzentrieren kann, wie er sagt. Schließlich verabschiedet er sich von seinen Freunden und radelt frühzeitig nach Hause. Überhaupt entsteht der Eindruck, dass sich Sfen in diesem Jahr früher auflöst. Tatsächlich soll das Fest am Sonntag nur noch bis 6 Uhr und nicht wie sonst bis 14 Uhr dauern. Aber wo in den vergangen Jahren auch um 1 Uhr noch alle Buden aktiv, die Bühnen bespielt waren, scheint sich dieses Jahr schon um Mitternacht alles aufzulösen. Nicht wenig wird bereits abgebaut, viele Besucher strömen den Ausgängen entgegen. 

Einige von ihnen halten aber vorher noch kurz in der Schinkelhalle inne. Dort wird um Mitternacht ein großes Sandmandala aufgelöst, das Mönche des Kloster Sera Je bereits seit dem 29. August mühsam kreiert haben. Nun dürfen die Besucher ein Tütchen bunten Sand mit nach Hause nehmen. Viele bunte Körnchen Spiritualität, die sich verteilen, den Heimweg mit guter Laune verkürzen und etwas Hoffnung in die ungewisse Zukunft tragen.

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