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Kultur: Spurensicherung

Die Galerie Ruhnke zeigt Druckgrafiken von Volker Bartsch aus vier Jahrzehnten

Mitunter beginnt er schon im Morgengrauen seine Arbeit: Er steigt in den flachliegenden weißen Sportwagen, Jahrgang 1959, und fährt zum Brandenburger Tor. Dort, wo inzwischen Verkehrsverbot herrscht, platziert er auf dem Boden eine mit Wachs überzogene Radierplatte. Zielgenau fährt Volker Bartsch über dieses „Metall“. Die Reifenabdrücke prägen sich ein und ebenso die Pflastersteine. Bevor Ordnungshüter auf ihn aufmerksam werden, ist er wieder verschwunden. Der Künstler wird zum Grenzübertreter, um Spuren der einstigen Grenze zu sichern.

Car Print nennt Volker Bartsch diese Technik, die er auch an der Glienicker Brücke, am Checkpoint Charlie oder vor seinem Berliner Atelier am Holzmarkt unter die Reifen nimmt. Dort, unter den S-Bahn-Bögen, gab es zu DDR-Zeiten die einzige Werkstatt für Westautos der Marke Fiat. Welcher Ossi im Grenzgebiet seinen Wagen für Devisen reparieren lassen konnte, weiß er nicht. Aber dass die Bögen bald in ihrer jetzigen Form verschwinden und einem Kultur- und Gewerbedorf weichen, sehr wohl. Also sichert er die Abdrücke der Geschichte. Seine Car Prints sind die jüngsten Arbeiten aus 40 Jahren grafischen Schaffens, das ab heute in der Retrospektive „Alles geritzt“ in der Galerie Ruhnke vorgestellt wird. Begleitend läuft ein Film, der vor Augen führt, wie der Künstler seinen Oldtimer als „Pinsel“ und Druckmaschine über die Straßen lenkt.

Volker Bartsch, der den Kleinstadtmief seiner Geburtsstadt Goslar gern hinter sich ließ und in den 1970ern zu den „Wilden“ der Westberliner Kunstszene gehörte, hat sich das Anarchische bewahrt. Immer wieder erfindet er sich neu, um seinem Anspruch treu zu bleiben: das Suchen und Bewahren von Relikten vergangener Epochen. Seine Druckgrafik – die erstmals so umfassend gewürdigt wird – erzählt viel auch über ihn selbst. In den 1980er-Jahren trieb er sich oft auf dem Schrottplatz herum, um weggeworfene Industriebleche zusammenzutragen: Eisen mit unverwüstlichen Schwermetallfarben, von Patina überzogen – Gemälden gleich. Er hat diese Bleche zu Skulpturen zusammengeschweißt, ihnen ein zweites Leben gegeben.

Parallel zu den wenigen Kleinplastiken, die wie Zäsuren der Ausstellung Halt und roten Faden geben, reihen sich die Grafiken zu Komplexen. Mal sind sie malerisch, dann wieder ins Dreidimensionale getrieben. Bildhauerei und Grafik gehören zusammen. Die für die Grafik typische Zweidimensionalität ist für Bartsch inzwischen ausgereizt. „Sie begann mich zu langweilen.“ Also experimentiert er mit Prägungen, stanzt Struktur ins Papier. Diese feinen Geflechte leitet er aus seinen Skulpturen ab, wie die Ausstellung plastisch vor Augen führt. Die geprägten Farbradierungen hängen vor graublauem Hintergrund, was sie noch mehr strahlen lässt. Ähnlich wie im Museum Barberini wurden extra für diese Ausstellung die Galeriewände überstrichen.

Vor ihnen thront auch die Skulptur „Der Politiker“, der zum Anfassen einlädt. Nur so spürt man das Zusammenspiel der verschiedenen Oberflächen, den Wechsel von Warm und Kalt. Diese 2007 gefertigte Arbeit ist geradezu tagesaktuell. Als Bartsch hörte, dass über 100 Jahre alte Holzgussformen für Dampflokomotiven verbrannt werden sollten, machte er sich schnurstracks auf den Weg, um sie zu retten. Er lagerte sie ein, ließ sich und ihnen Zeit, zusammenzufinden. Schließlich ergänzte Bartsch die skulpturalen gelb-blauen Holzformen durch Bronzeteile. Und wer genau hinschaut, entdeckt vielleicht einen Kopf darin, der in seinem dienenden Gestus an einen Pagen erinnert. Oder an einen Politiker, dem Volk verpflichtet.

Solche Botschaften verleibt Bartsch seinen Arbeiten gerne ein. Widerhaken ohne Pathos. Eher mit erfrischender Ironie. Die versprühen auch seine „Schwarzlicht“-Radierungen über das ausschweifende Partyleben der 80er-Jahre. Sie bilden eine Symbiose mit der Skulptur „Block frei“. Dort löst sich eine Tanzende aus der Menge, schüttelt wild alles von sich ab. Am Ende ist sie nur noch eine leere Hülle, hat sich selbst verloren. Der Künstler weiß: „Man braucht einen bestimmten Halt, ist eingebunden in Traditionen.“

Er erlebte, wie Freunde auf der Strecke blieben in dieser Zeit des Aufbegehrens und ungestümen Fallenlassens. Die Krankheit Aids versetzte sie in Schockstarre. Auch Volker Bartsch warf sich zuvor gern in die Nächte hinein. Und studierte die weiblichen Körper. Ganz genau. Der Mensch ist sein Maß, selbst wenn er sich als Riese erhebt, wie in den „Perspektiven“ vor der Freien Universität Berlin als größter Bronzeskulptur Europas. Volker Bartsch wächst mit aufgekrempelten Ärmeln und Schweißgerät über sich selbst hinaus und kann zugleich ganz zart, ganz weich, ganz klein und hochkonzentriert seine Gedanken verdichten. Essenzen, in Grafik geronnen.

„Erstmals würdigt eine Ausstellung seine Virtuosität als Grafiker“, schreibt Jutta Götzmann, die Direktorin des Potsdam Museums, im Begleitkatalog zu dieser Ausstellung. Das Skizzenbuch von Volker Bartsch, das er seine „Bibel“ nennt, und in das er oft auch nachts hineinschreibt, hineinmalt, bevor sich die Gedanken wieder verflüchtigen, weist bereits ins nächste Jahrzehnt. Wie ein Heiligtum wird dieses Ideenlabyrinth in der Ausstellung präsentiert: unter Glas und per Video animiert. Volker Bartsch wird bald wieder irgendwo ein neues Atelier aufschlagen, ein neues Kapitel beginnen. Er ist ein Reisender – aber mit einem Koffer in seinem Vierseitenhof in Wildenbruch.

„Alles geritzt“ – Vernissage heute um 16 Uhr, Galerie Ruhnke, Charlottenstraße 122

nbsp;Heidi Jäger

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