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"Re:Incarnation" war das erste Gastspiel aus Nigeria, das die Tanztage zeigen konnten.

© Herve Veronese

So waren die 31. Potsdamer Tanztage: Der Mensch, ein Gruppentier

Die 31. Tanztage sind zu Ende. Das Fazit? Das Tanztheater lebt! Und: Nach zwei Jahren Pandemie ging es mehr denn je um Energien und Qualitäten des Miteinanders.

Potsdam - Wenn man die mehr als 40 Aufführungen und Veranstaltungen der am Sonntag zu Ende gegangenen 31. Potsdamer Tanztage auf einen gemeinsamen Nenner bringen will, dann heißt dieser vor allem: intensive Gruppenerfahrungen. Nach mehr als zwei Jahren weltweiter Pandemie, die von allen Beteiligten sehr unterschiedlich erlebt wurde, gab es nach der erzwungenen Vereinzelung – egal, ob in Brasilien, Nigeria oder Kanada – unübersehbar das künstlerische Bedürfnis, sich mit den Energien und besonderen Qualitäten von Menschen in Gruppen auseinanderzusetzen. 

Individuelle Initiations- und spirituelle Gruppenerfahrungen

Mit einer deutschen Erstaufführung aus der Vor-Corona-Zeit gab die junge katalanische Choreografin Aina Alegre am Freitag den Auftakt zum letzten Festivalwochenende: Sie war zum ersten Mal in der fabrik und bei den Tanztagen zu Gast. Ihr Stück „La nuit, nos autres“ betonte noch einmal das Thema, das das gesamte Festival bestimmt hatte: Auch hier ging es um individuelle Initiations- und spirituelle Gruppenerfahrungen – in einem urwaldähnlichen Raum. 

Schon die Eröffnungsinszenierung des Festivals – „Ever so slightly“ von der kanadischen Rubberband Company um Victor Quijada – hatte nicht nur diametrale Bewegungsstile wie Hip Hop und Ballett miteinander verbunden, sondern auch gegensätzliche Energien wie Schwere und Leichtigkeit untersucht. 

"La nuits, nos autres" machte den Auftakt zum letzten Festivalwochenende bei den 31. Potsdamer Tanztagen.
"La nuits, nos autres" machte den Auftakt zum letzten Festivalwochenende bei den 31. Potsdamer Tanztagen.

© Albert Uriach

Die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues entwickelte in der erzwungenen Corona-Einsamkeit in Rio de Janeiro mit Bezug zu den indigenen Wurzeln ihrer diversen Tänzer:innen in „Encantado“ hingegen einen fulminanten Farb- und Formenrausch, der die fabrik-Bühne mit seelenvoller Gruppen- und überaus heilsamer Lebensenergie flutete. Rodrigues sprach auch offen darüber, wie sie und ihr Ensemble die Pandemie in einer brasilianischen Favela erlebten und was es für sie bedeutet, wieder in Europa auftreten zu können. 

Reigen tänzerischer Großgruppenereignisse

Den Reigen der tänzerischen Großgruppenereignisse beschloss am ersten Festival-Wochenende der junge nigerianische Choreograf Qudus Onikeko mit „Re:Incarnation“, eine der insgesamt sechs Deutschlandpremieren während der Tanztage, in der sich die zehn jungen, überaus energie-geladenen Tänzer:innen aus der 22 Millionen Einwohnermetropole Lagos mit den traditionellen Wurzeln der afrikanischen Yoruba-Kultur verbanden. 

Diese Inszenierung war vor allem eine philosophische Horizonterweiterung und wies die Tanztage einmal mehr als ein weit aufgestoßenes kulturelles Fenster zur Welt aus. Lediglich Kompanien aus dem asiatischen Raum waren diesmal nicht in Potsdam zu Gast.

"37 hours & 3 minutes" von Gunilla Heilborn feierte Deutschlandpremiere bei den Potsdamer Tanztagen 2022.
"37 hours & 3 minutes" von Gunilla Heilborn feierte Deutschlandpremiere bei den Potsdamer Tanztagen 2022.

© Märta Thisner

Auch als Zuschauer:in war man nach über zwei Pandemiejahren wieder mit großen Menschenmengen in geschlossenen Räumen konfrontiert. Während sich die Festivaleröffnung im nahezu ausverkauften Hans Otto Theater anfangs noch ungewohnt anfühlte, verging dieses Fremdeln bald und die Theatererfahrung schlechthin – das gemeinsame Gruppenerlebnis in Echtzeit – entwickelte von nun an jeden Abend seinen unwiderstehlichen Sog. 

Gemeinsames Lachen, Gebanntwerden, Verstörtwerden

Und zwar auf sehr unterschiedliche Art und Weise: Entweder im gemeinsamen Lachen in Gunilla Heilborns intellektuell vielschichtiger Tolstoi-Performance „37 hours and 3 minutes“ oder im Gebannt- und auch Verstörtwerden von der Nacktkörper-Performance von Daina Ashbee. Diesen überwiegenden Kollektiverkundungen standen zwei starke Frauen-Solos aus dem arabischen (Kultur-)Raum gegenüber, die diesen Raum auch zum Thema machten. 

Die junge Palästinenserin Sahar Damoni beschäftigte sich mit dem Tabuthema Abtreibung unter arabischen Frauen. Und die in Oslo lebende Mia Habib untersuchte in „Missing in action“, einem 17 Jahre alten Solo aus der Zeit des Beginns des „Krieges gegen den Terror“, den Zustand der Ungewissheit: Was bedeutet es, wenn Menschen im Kriegsgeschehen verlorengehen – und wie geht ein Körper mit dem Unbestimmbaren um? 

"J'ai pleuré avec les chiens" von Daina Ashbee war eine eindrückliche Nacktperformance.
"J'ai pleuré avec les chiens" von Daina Ashbee war eine eindrückliche Nacktperformance.

© Stephanie Paillet

Das Tanztheater lebt!

Vorherrschendes künstlerisches Mittel nahezu aller Inszenierungen war die Performance als ästhetische Auseinandersetzung mit der krisengeschüttelten, kapitalistischen Welt. Im Anschluss nach den gut besuchten Vorstellungen gab es auch ein großes Bedürfnis nach Austausch in den zahlreichen Publikumsgesprächen. 

Das zeitgenössische Tanztheater lebt! So lautet das erleichterte Fazit der Festivalorganisator:innen der Potsdamer fabrik ganz am Ende dieser Tanztage. Nach zwei Jahren andauernder Verschiebungen und Unterbrechungen haben über 5000 Zuschauer:innen dem Festival trotz Improvisationsmodus die Treue gehalten. Festivalleiter Sven Till dankte dem Publikum nach Mia Habibs Aufführung am Samstagabend ausdrücklich für seine starke Präsenz. Und er freute sich, dass sich weiter zunehmend Besucher:innen aller Generationen für die Internationalen Tanztage interessieren. 

Astrid Priebs-Tröger

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