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Die Künstlerin Annette Paul führt in ihrer interaktiven Performance „Gegend“ auf das Dach des Rechenzentrums. 

© Andreas Klaer

Sieben Jahre Rechenzentrum: Der Zukunft zugewandt

Das Kreativhaus Rechenzentrum hat Geburtstag – Fritz Eisels Mosaik auch. Gefeiert wird gemeinsam. Es gibt aber nicht nur Grund zur Freude.

Potsdam - Zum siebten Geburtstag des Rechenzentrums steigt Annette Paul dem Gebäude aufs Dach. Die Künstlerin lädt dort, hoch oben, zum Erkunden einer neu entstandenen Gegend ein, wie sie im Fahrstuhl noch rasch sagt. Oben angekommen, zeigt sich der Spätsommerhimmel freundlich, die Stadt wirkt plötzlich klein. Der hohe Turm der Garnisonkirche wirft seinen langen Schatten. Die „Gegend“ schmiegt sich auf die wellige Dachpappe: Es sind sechs gigantische Buchstaben, aus gelber Wandfarbe. Dort, wo einst das Kirchenschiff der Garnisonkirche stand – und wo es einige gerne wieder sähen.

Der Streit um den Raum, den Pauls „Gegend“ markiert, schwelt, seitdem der DDR-Bau, errichtet von 1969 bis 1971, im Jahr 2015 von Kultur-Akteur:innen umgewidmet und als Atelierhaus genutzt wurde. Der Stiftung Garnisonkirche gehört ein Teil des Grundstücks. Sie ließ die Kreativen gewähren, behielt sich aber immer die Möglichkeit eines Wiederaufbaus vor – der den Abriss des Rechenzentrums bedeuten würde. Im Dezember 2021 noch hatte Oberbürgermeister Mike Schubert einen Kompromiss präsentiert, der eine Erhaltung des Rechenzentrums in Reichweite rückte – nach jahrelangem Streit ein Szenario, in dem das Rechenzentrum dauerhaft Platz hätte. Jetzt aber schwankt der Kompromiss. Alles scheint wieder offen.

Unsicherheit überschattet den Geburtstag

Für die rund 300 Kreativen im Rechenzentrum heißt das: Auch der aktuelle Geburtstag ist von grundlegender Unsicherheit überschattet. Alle Mietverträge laufen 2023 aus. Gefeiert werden soll trotzdem, drei Tage lang (siehe Kasten). Zumal sich in diesem Jahr ein zweites Jubiläum dazugesellt: Das Glasmosaik von Fritz Eisel, in den Jahren 1971 und 1972 an der Außenwand entstanden, wird 50. Auf insgesamt 70 Metern Länge wurde hier die Zukunftsgläubigkeit der DDR in ikonische Bilder gefasst, eine Ode an Wissenschaft und Fortschritt. Der Titel des Bilderreigens: „Der Mensch bezwingt den Kosmos“.

Mensch und Kosmos 1972. Fritz Eisels Mosaik feiert den Fortschritt. 
Mensch und Kosmos 1972. Fritz Eisels Mosaik feiert den Fortschritt. 

© Ottmar Winter

Für eine Ausstellung im Jubiläumsjahr hat sich das Rechenzentrum Eisels Titel anverwandelt. Unter dem Motto „Der Mensch verlinkt den Kosmos“ geben rund 40 zeitgenössische Künstler:innen Antwort auf die Frage: Was ist von Eisels Mosaik im Jahr 2022 noch aktuell? Arbeiten auf Papier und Video, Skulpturen und Fotografien. Der Bildhauer Stefan Pietryga lässt fünf goldene Schafe in ein schwarzes Loch starren. Das sechste wendet sich ab.

Tier und Kosmos 2022. Stefan Pietryga hinterfragt den Fortschritt.
Tier und Kosmos 2022. Stefan Pietryga hinterfragt den Fortschritt.

© Andreas Klaer

Verhärtete Fronten

Und auch die Performance von Annette Paul gehört dazu. Angesichts der verfahrenen Situation für das Rechenzentrum sieht sie sich wie ein ironischer Hilferuf nach Unterstützung für die Erhaltung dieser „Gegend“ – von ganz oben. „Wer immer da herunterschaut, wird innehalten“, schreibt Paul auf ihrer Webseite. Ein bisschen so, als habe man das Vertrauen in die, die hier unten die Geschicke leiten, bereits verloren. Dass im Wort „Gegend“ auch ein „gegen“ steckt – kein Zufall. Die Fronten zum Nachbarn sind verhärtet.

Tatsächlich ist das Unverständnis darüber, dass es bisher nicht gelingen konnte, eine Mehrheit für dieses Kunst- und Kreativhaus zu gewinnen, unter den Beteiligten groß. Die Hoffnung, dass es hier dennoch weitergeht, allerdings auch. Ulrike Harder, die seit 2018 ein Atelier im Haus hat, lobt das Miteinander, die Vernetzung – und ist wie auch RZ-Sprecherin Anja Engel genervt von der ewigen Debatte, ob das Gebäude „schön“ genug sei, um erhalten zu werden. „Ich rede lieber über Inhalte als über Äußerlichkeiten“, sagt Engel. Was für sie zählt: „Es ist ein Ort, der funktioniert.“ 200 Mietverträge gebe es heute – aber die Anzahl der Nutzer:innen, die dahinter stehen, sei wesentlich höher. 342 hat Anja Engel zuletzt gezählt. Die 15 bis 20 Quadratmeter großen Ateliers werden von bis zu 15 Menschen genutzt.

Anja Engel.
Anja Engel.

© Andreas Klaer

„Der Grad der Frustration wird immer größer“

„Das sind vor allem Leute, die sich etwas anderes nicht leisten könnten“, sagt Engel. „Das Rechenzentrum wird immer jünger.“ Ein Quadratmeter kostet 10,43 Euro, für beste Innenstadtlage. Die Pandemie habe die Nachfrage nicht gebremst, im Gegenteil. Alle Räume sind vermietet. Die Warteliste wächst weiter – aber die Fluktuation, wie Engel sagt, nimmt ab. Wer hier einmal Platz gefunden hat, will bleiben, „Teil dieser Gemeinschaft sein“.

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Es ist der siebte Geburtstag, den Anja Engel für das Haus organisiert. „Der Grad der Frustration wird immer größer“, sagt sie, die eigentlich nicht jammern will. Dass im Jahr 2022 noch darüber diskutiert wird, ein funktionierendes Gebäude abzureißen, findet sie schlicht unzeitgemäß. Sie würde gern über langfristige Perspektiven nachdenken, die Sanierung der Außenwände, die Begrünung der Straßenseite, eine permanente Nutzung auf dem Dach – aber solange die Zukunft des Hauses offen ist, stehen andere Dinge an.

Auch wenn Anja Engel es zum Geburtstag nun noch einmal krachen lässt: „Einen achten Geburtstag werde ich unter diesen Bedingungen nicht mehr organisieren“, sagt sie und zeigt auf ihr Lieblingskunstwerk in der Fritz-Eisel-Ausstellung. Es ist eine schwarze Fläche mit weißen Buchstaben. Da steht: „Ins All fliegen aber hier nichts geschissen kriegen.“

Kunst, Netzwerk, Debatte – und Mischkultur

Das Rechenzentrum feiert an drei Tagen seinen Geburtstag. Am heutigen Donnerstag um 17 Uhr wird die Schau „Der Mensch verlinkt den Kosmos“ eröffnet. Von 17.30 bis 18.30 sowie am Samstag von 15 bis 17 Uhr Uhr kann man Annette Pauls Performance „Gegend“ erleben. Treffpunkt ist das Kosmonauten-Mosaik (jeweils nur eine Person). 

Um 19 Uhr findet im Innenhof eine Sonderausgabe des Netzwerkevents 7Sachen statt – unter anderem mit Designerin Nadine Kessler (Bauhaus der Erde), Musikerin Luisa Lessinger, Schauspieler Arne Lenk und Anja Engel vom Rechenzentrum. 

Am Freitag, den 2. September, findet ab 13 Uhr die Tagung „How To: Gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung“ statt. Hier soll über ein gemeinsames Verständnis der Begrifflichkeiten Gemeinwohlorientierung und „koproduktive Stadtentwicklung“ nachgedacht werden. Eingeladen sind Vertreter:innen ähnlicher Projekte aus Kiel und Berlin. Ab 17 Uhr wird in einem offenen Format die aktuelle Situation im Rechenzentrum diskutiert. Am Abend lädt ein Kosmoskonzert mit Neoangin (aka Jim Avignon) und Inga aus Hamburg zum musikalischen Ausklang. 

Als Highlight der Feierlichkeiten ist am Samstag von 14 bis 18 Uhr das Fest „Mischkultur“ auf der Plantage angekündigt – ein großes Fest mit Kunst, Upcycling, Bewegung und Begegnung. Geboten werden Workshops zu Siebdruck und Fahrradschläuchen, Marktstände, Konzert, Performances. Ab 18 Uhr folgen Konzerte von Becca, „RZ4Ever Bässe für den Block“ und Laguna Motel. www.rz-potsdam.de.

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