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Alltag in der Anstalt. „Ungeheuer aufwühlend“ nennt Kuratorin Eske Nannen das Bild „Das Kreuzworträtsel“ von Maxim Kantor. Als ihr Mann, der Journalist Henri Nannen, Kantor in den 1980er-Jahren in Moskau besuchte, hing es bei ihm überm Bett

© Maxim Kantor

Kultur: Seele statt Großmacht

Von Moskau über Emden in die Villa Schöningen: „Glasnost-Kunst“, kuratiert von Eske Nannen. Ihr Mann machte die Bilder in Deutschland bekannt

Die Bilder, die einst von Ost nach West gereist sind, machen jetzt einen kleinen Schritt zurück. Nicht gerade bis nach Russland, aber immerhin vom niedersächsischen Emden nach Potsdam. „Kunst aus der Glasnost-Zeit“ heißt die Ausstellung, Teil der Sammlung der Kunsthalle Emden, die bis 26. Februar in der Villa Schöningen gezeigt wird.

Es ist das erste Mal, dass die rund 50 Werke systemkritischer Künstler der ehemaligen Sowjetunion im Raum Berlin gezeigt werden. Mit der Villa Schöningen sogar konkret an einem Ort, der gut zur Geschichte dieser Bilder passt: Die Glienicker Brücke, in deren Nähe die Villa liegt, ist ja auch ein Symbol für den Transit zwischen Ost und West. Auf der Potsdamer Seite weht durch Software-Milliardär und Museumsstifter Hasso Plattner heute ein ähnlicher Mäzenaten-Geist, wie ihn Eske und Henri Nannen geprägt haben. Die Arbeiten aus der Glasnost-Zeit, die ab Sonntag in der Villa Schöningen gezeigt werden, hatte der „Stern“-Gründer, Journalist und Kunstsammler Henri Nannen zusammen mit seiner Frau Eske nach Deutschland geholt, die von den beiden gegründete Kunsthalle Emden wurde ihr Zuhause. 1986, vor 30 Jahren also, bildeten die Bilder eine der ersten Ausstellungen des inzwischen so renommierten Hauses.

Die Arbeiten, etwa von Maxim Kantor, Lew Illitsch Tabenkin und Leonid Purygin waren damals so ziemlich das Erste, was die westdeutsche Kunstszene von kritischen Sowjet-Künstlern mitbekam. Vor allem zu Maxim Kantor, dessen Arbeiten auch in der Villa Schöningen im Mittelpunkt stehen werden, hat Eske Nannen, ebenso wie ihr Mann, eine ganz besonders innige Beziehung. „Ein ,Stern’-Korrespondent in Moskau hat uns damals empfohlen, sein Atelier zu besuchen“, sagt Eske Nannen. Über seinem Bett hing „Kreuzworträtsel“. „Ungeheuer aufwühlend.“ Das Bild zeigt Patienten einer Psychiatrie, die das titelgebende Kreuzworträtsel lösen. Aber es gibt eben auch versteckte Botschaften auf dem Bild. „Oder die ‚Morgenvisite“, da ahnt man ganz schnell, wie die Ärzte so drauf sind“, sagt Nannen. Zwischen ihrem Mann Henri und Maxim Kantor habe sich damals schnell eine Art Vater-Sohn-Beziehung entwickelt, auch sie ist ihm bis heute eng verbunden.

Kantor, 1957 in Moskau geboren, begann ab 1982, an inoffiziellen Ausstellungen teilzunehmen, 1983 gründete er die unabhängige Künstlergruppe „Krasny Dom“ (das rote Haus), die mit Ein-Tages-Ausstellungen im Untergrund bekannt wurde. Seine Bilder sind sozialkritisch – sie zeigen ausgezehrte Gesichter, Trinker, Totschlagsopfer, Menschen in Bewegung –, aber sie ordnen sich dabei nie dem Zweck unter. Sie flackern in den Grundfarben, oft Blau vor Rot und umgekehrt, und sie alle eint eines: die unruhige Schönheit des Expressionismus. Der ist zwar inzwischen über hundert Jahre alt – aber auch auf Kantors jüngsten Bildern noch immer zu erkennen. Vor allem aber weisen sie immer über das Konkrete, auch das Kritische hinaus – erst deshalb sind sie ja Kunst und nicht nur politische Kunst. Sie schaffen größere Räume für Gedanken und erinnern dabei an die Bilder von Max Beckmann oder den magischen Realismus, der in den 1920er-Jahren Bilder und Bücher in Europa und Südamerika mit formte. Spuren einer Zeit des Umbruchs also, die Weimarer Republik war noch jung.

Aber es passt, dass Kantor in den frühen 1980er-Jahren an diese Bildsprache anknüpfte. Schließlich war die Zeit um 1987 die Zeit von Glasnost. Als Eske und Henri Nannen damals die Ausstellung „Die neue Freiheit der sowjetischen Maler“ vorbereiteten, war das spürbar. 1982, als sie und Henri die ersten Male Kunst aus der Sowjetunion nach Deutschland holen wollten, da sollte ein Teil noch zurückgehalten werden. Geschafft haben sie es trotzdem. Generell, sagt Nannen, verbinde sie mit den meisten der Bilder ganz persönliche Erinnerungen. „Es gibt da ein Bild, das zeigt eine Frau mit Brot – das vermittelt für mich die ganze russische Seele.“ Was die ausmacht? „Unendliche Geduld, Gelassenheit, Leidensfähigkeit. Die Liebe zur Musik. Das ist eigentlich uns Deutschen doch sehr nahe.“

Vielleicht ist es gut, sich gerade jetzt daran zu erinnern. Anders als die Sowjetunion zu Zeiten von Glasnost scheint sich das heutige Russland lieber wieder abzuschotten. Alte Großmachtfantasien wieder aufleben zu lassen. Die Ausstellung jetzt wieder zu zeigen, habe aber nichts mit der aktuellen Politik zu tun, betont Nannen. „Ich könnte dazu vielleicht Kantor zitieren, der sich noch immer in dem Spannungsfeld bewegt, der mit großer Liebe an Russland hängt und trotzdem immer kritisch bleibt.“ Mehr will sie dazu nicht sagen – um Kantor zu schützen, wie sie meint.

Natürlich muss, nein darf man nicht immer die direkte Parallele zwischen (kritischer) Kunst und Politik suchen. Wenn Kunst eins zu eins dechiffrierbar wäre, wäre sie ja keine, sondern eben Politik mit visuellen Mitteln. Bilder aber haben ja die subtile Kraft, ganz neue Verknüpfungen im Hirn zu schaffen. Genau die Fähigkeit, die in der Tages- und Weltpolitik fast immer fehlt: The Big Picture, die tief im kollektiven Unterbewusstsein verborgenen Verbindungen zwischen allen Dingen, wenn auch nicht sichtbar, so doch ahnbar zu machen.

„Kunst aus der Glasnost–Zeit. Meisterwerke der Kunsthalle Emden“, ab Sonntag, 30. Oktober, in der Villa Schöningen, Berliner Straße 86

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