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Kultur: Schreiben verleiht Flügel

Der Potsdamer Rolf Gutsche ist sprachbehindert und schreibt Gedichte

Der Potsdamer Rolf Gutsche ist sprachbehindert und schreibt Gedichte Von Astrid Priebs-Tröger Am Anfang unserer Bekanntschaft stand ein Gedicht. „Leben“. „Es war, wie es war / Gut und schlecht. / Es ist, wie es ist / Ich kämpfe. / Es kommt, wie es kommt. / Ich habe Hoffnung.“ Sechs Zeilen nur, aber voller Klarheit und Kraft. Die um so nachhaltiger wirken, wenn man Rolf Gutsche (Jahrgang 1963) kennenlernt. Gutsche ist seit seiner Geburt schwerbehindert. Sein Körper und seine Aussprache sind von spastischen Lähmungen betroffen. Kürzlich war er als Darsteller in einem Theaterstück im Haus der Begegnung zu erleben. Eine Verständigung mit ihm ist mühevoll, für beide Seiten. Für ihn, dessen Mund mühsam Wort für Wort formt, für den Zuhörer, der sich nur mit viel Geduld und wiederholtem Nachfragen die Bedeutung des Gesprochenen erschließen kann. Aber er macht keine langen Sätze, keine unnötigen Worte, er kommt schnell zum Wesentlichen. Genau wie in seinen Gedichten und Geschichten. Und geschrieben hat er immer, auch wenn er es spät gelernt hat, denn anfangs hielt man ihn nicht für schulfähig und nur seiner damaligen Sprachtherapeutin ist es zu danken, das er eine „normale“ Ausbildung absolvieren konnte. Das bedeutete, er wurde gemeinsam mit acht anderen körperbehinderten Kindern mehr als sieben Jahre lang in einem Krankenzimmer unterrichtet, in dem er auch schlief und lebte. 1982 absolvierte er die 10. Klasse mit dem Prädikat „gut“. Stolz ist in seinen Augen zu lesen, wenn er davon erzählt, auch heute noch, und Schalk, über meine Bestürzung, dass selbst Chemie und Physik im Krankenzimmer stattfanden. Danach wollte er unbedingt Bürokaufmann werden, aber aufgrund seiner starken Handbehinderung traute ihm das niemand zu und Arbeitsassistenten gab es in den 80-er Jahren nicht. Stattdessen landete er in einer geschützten Werkstatt, in der er Lautsprecherstecker sortieren mußte, die mit „R“ nach rechts, die mit „L“ nach links. Doch Rolf Gutsche ließ sich nicht unterkriegen. Er schrieb – für die Kirchengemeinde Zittau – Adressen auf Briefumschläge. Für jeden brauchte er eine Viertelstunde. Und er verfasste Gedichte über Zittau: „Zweihundertfünfundsechzig Stufen sind zu bezwingen, / Das kostet Mühe und Kraft. / Um mich ist ein Rauschen und Klingen. / Froh bin ich, hab den Aufstieg geschafft.“ Und auch als sogenannter Volkskorrespondent für die „Sächsische Zeitung“. Durch Beziehungen gelang es ihm, sich einen Platz im Oberlinhaus Babelsberg zu erobern. 15 Jahre war er dort zu Hause, wichtige Jahre, die ihm viel bedeuten. Er lernte weben, arbeitete später in der Caféteria des Hauses, erst als mobiler Speisen- und Getränkeservice, danach im Lager am Computer. Auch hier schrieb er, u. a. Texte für Theateraufführungen. 1991 wurde in Potsdam ein Literaturklub für Behinderte gegründet. Unter der Leitung von Walter Flegel wurde seine Schreiblust geschürt. Durch die Besprechungen der Texte in der Gruppe haben sich Ausdruck und Form verändert. Seit 1993 wurden vier Anthologien veröffentlicht, in denen Rolf Gutsche vertreten ist. 1995 lernte er eine weitere wichtige Förderin kennen, die heute über neunzigjährige Eva Seemann, die früher als Lektorin bei DEFA gearbeitet hatte und selbst schreibt. Sie begleitete ihn intensiv, als er 1996, durch ein dreimonatiges Stipendium des Kulturministeriums die Gelegenheit bekam, an seinem ersten eigenständigen Buch zu arbeiten. In „Achterbahn“ erzählt er Begebenheiten aus seinem Alltag und darüber hinaus. Er ermöglicht dem Leser eine sehr genaue Einsicht in das Leben von Menschen mit Behinderungen, er zeigt ihre Verletzungen und Kämpfe, aber vor allem die Kraft der „Schwachen“. Und er hält uns, den sogenannten Normalen den Spiegel vor, wie auch schon in seinen Versen „Du Mensch“: „Du Mensch bist arm, / weil du reich sein willst. / Du Mensch bist unzufrieden, / weil dein Leben keine Hindernisse haben soll. / Suche deinen Reichtum in den Schwachen. Seine Kämpfernatur zeigt sich in allen Bereichen seines Lebens, sei es, dass er 36-jährig in die erste eigene Wohnung zog, Theater spielt oder sich im Potsdamer Behindertenbeirat engagiert. Und auch beim Schreiben. Es gibt Zeiten, in denen er seine Ideen jedoch nicht aufs Papier bringen kann, manchmal, weil die Arbeit, die für ihn „wie ein Sechser im Lotto ist“, wenig Zeit dazu lässt oder der Körper nicht mitspielt. Rolf Gutsche gibt nicht auf. Er will als nächstes Projekt ein biografisches Tagebuch in freier Lyrik zusammenstellen, er wird Dinge, die ihn seit 1999 bewegen in verdichteter Form auf den Punkt bringen. Denn er hat viel zu sagen, will sich einmischen. Das Schreiben verleiht ihm die Flügel dazu.

Astrid Priebs-Tröger

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