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Kultur: Sanfte Revolution

Pierre Rigal begeisterte mit „Standards“ zur Eröffnung der 23. Potsdamer Tanztage

Es passiert nicht oft, dass aktuelle politische Fragestellungen eine sinnbildliche Darstellung im Theater finden. Zumeist kreisen derartige Inszenierungen wortreich um die jeweilige Problematik. Nicht so die Choreografie „Standards“ von Pierre Rigal aus Toulouse, die am Mittwochabend mit sehr überzeugender Symbolik die 23. Potsdamer Tanztage eröffnete.

Hier betraten vier junge Frauen und drei junge Männer in grauer Streetwear die Bühne und schon ihre Aufmachung, sie hatten alle – gleichfalls standardisiert – verschiedene Neonfarben im Gesicht, vermittelte sinnfällig einen Zugriff auf die Thematik: Wie definiert sich der Einzelne als Einzelner und/oder als Teil einer Gruppe. Bei Pierre Rigal sind es diese jungen Breakdancer und sie beherrschen die Dresscodes und Techniken, die diese Jugendkultur auszeichnen. Und auch wenn sie sich anfangs, als sie in Socken die Bühne betreten – für Urban Dancers bedeutet das Respekt – noch ein wenig unsicher fühlen, so ändert sich das ganz schnell und es ist großartig, sie fortan als einzelne Tänzer und als dynamische Gruppe zu erleben.

Doch Pierre Rigal, der mit seiner Großstadtchoreografie „Asphalte“ vor drei Jahren ebenfalls die Tanztage eröffnete, geht mit „Standards“ (2012) weit über eine Hip-Hop-Inszenierung hinaus. Als auf der rechteckigen dreigeteilten Tanzfläche die Farben der französischen Trikolore aufleuchten, spürt jeder im Saal, dass es von jetzt an um die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens geht. Und hier tasten, trampeln und taumeln die mehr als 200 Jahre später Geborenen buchstäblich mit den Füßen auf den Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herum. So lange, bis sie die Flagge vom Rand her auseinandernehmen und den Klebstoff, der diese zusammenhält, zu einem riesigen Knäuel verknäulen und die einzelnen Stoffbahnen willkürlich im Raum verteilen.

Das alles geschieht nicht in wildem Aufruhr oder mit chaotischer Zerstörungswut wie beispielsweise bei den Jugendlichen der Pariser Vororte, sondern mit Lust und Bedachtsamkeit. Da landet das riesige Kleberknäuel wie eine Krone auf den Köpfen Einzelner, die Fahnenbahnen überkreuzen sich und es entsteht ein Karussell, mit dem die gesamte Gruppe einen intensiven Tanz vollführt. Oder die Bahnen bilden den Hinter- und Untergrund für einen Laufsteg, auf dem sich alle präsentieren. Doch in die beinahe kindliche Experimentierfreude schleicht sich alsbald Unsicherheit ein.

Und während eines Donnergrollens (Livemusik: Nihil Bordures) verkriechen sich alle, und kurz darauf entstehen die intensivsten und sehr berührenden Bilder in der Inszenierung von Pierre Rigal. Die Männer und Frauen verbergen sich unter den wertlos gewordenen Flaggenteilen, diese umfließen sie dabei wie viel zu schwere Mäntel. Und auch, als sich die Tänzer gegenseitig auf den Schultern stehen und die Bahnen wie Roben von Königen bis zum Boden fließen, passen doch die Gesichter der jungen Frauen, die daraus hervorschauen, nicht zur Würde und Bürde dieser Symbole. Und jedem, der sehen und fühlen kann, leuchtet ein, dass für diese Nachgeborenen etwas anderes her muss!

An dieser Stelle trifft sich die Inszenierung von Pierre Rigal, der 1973 geboren wurde und nach einem Wirtschaftsstudium Tänzer und Choreograf wurde, mit den Ideen von Stéphane Hessel, der 93-jährig seine berühmte Streitschrift „Empört Euch!“ verfasste. Darin fordert er diejenigen, die das 21. Jahrhundert gestalten, auf: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“ Pierre Rigal hat diese Zeichen der Zeit ebenfalls gespürt und mit seiner Choreografie eine „sanfte“ - kulturell jedoch tiefgreifende – Revolution auf- und vorgeführt.

Minutenlanger Applaus und Bravorufe belohnten die nicht nur tänzerisch perfekte Eröffnung der diesjährigen Tanztage, die bis zum 2. Juni versprechen, brennende gesellschaftliche Fragen in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzungen zu stellen.

Astrid Priebs-Tröger

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