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Totale Transparenz. „Habiter sa mémoire“ heißt das Stück von und mit der Kanadierin Caroline Laurin-Beaucage, auf Deutsch: In seiner Erinnerung leben. Mit der Performance ertanzt sich das Festival Tanztage erstmals seit 1991 das Land Brandenburg – von Neuruppin über Cottbus bis nach Potsdam-Drewitz.

© Ginelle Chagnon

Kultur: Raus hier!

Die Tanztage 2017 wagen den Schritt ins Stadtgebiet – und erstmals auch ins Land Brandenburg

Die größte Neuerung der Tanztage beginnt, bevor die Tanztage selbst beginnen. 2017 ertanzt sich das Festival erstmals das Land Brandenburg. Zum ersten Mal seit der Gründung 1991 greift das Festival für zeitgenössischen Tanz in diesem Jahr ganz offensiv nach dem Umland. Schon eine Woche bevor das Festival am 16. Mai in der Potsdamer fabrik offiziell eröffnet, wird ein Festival-Prolog den Startschuss geben – in Neuruppin. Von dort geht es dann nach Cottbus, Kyritz, Guben und, rechtzeitig zur tatsächlichen Festivaleröffnung, nach Potsdam-Drewitz. Noch ein Novum.

Die 27. Tanztage haben sich den Umwegen verschrieben, der schrittweisen Annäherung an das Eigene, Bekannte von außen. Für die Praxis heißt das, sie erinnert sich derer, die normalerweise nicht auf die Idee kämen, sich zeitgenössischen Tanz anzusehen. „Habiter sa mémoire“ (in der Erinnerung wohnen) heißt adäquaterweise jenes Stück, das den tänzerischen Umweg vom Brandenburger Rand in Richtung Zentrum absolvieren wird. Es handelt sich bei dem Stück um eine Art wandelnde Käfig–Performance: Die Kanadierin Caroline Laurent-Beaucage wird in einem quadratischen Gehege an öffentlichen Orten den eigenen Körper transparent machen (Herzschlag und Körpertemperatur) und auf Tuchfühlung mit dem Umfeld gehen – mit dem Wetter, mit Geräuschen, mit Zuschauern.

Dass das Ganze draußen und bei freiem Eintritt passiert, zeigt: Festivalleiter Sven Till meint es ernst mit seinem Versuch, neues Publikum für den oft als unvergänglich beschriebenen Gegenwartstanz aufzutun und anzusprechen. Die zufälligen Begegnungen mit Passanten, die sich auf das Schauerlebnis einlassen, sollen festgehalten werden, fotografisch und in Fragebögen: „Wann hast du zum letzten Mal getanzt?“

Raus aus den bekannten Räumen, rein in andere Sozialräume: Von diesem Versuch kündet auch der zweite Festival-Prolog. „The Blank Placard Dance“ am 14. und 16. Mai bewegt sich zwar nicht bis nach Brandenburg hinein, aber immerhin bis ins Potsdamer Stadtgebiet. Hier sind die Zuschauer nicht nur als Zuschauer, sondern als Akteure gefragt. Inspiriert ist die Kollektiv-Performance der Französin Anne Collod von einer Arbeit aus dem Jahr 1967. Damals schickte die US-amerikanische Choreografin Anna Halprin 30 weiß gewandete Performer auf einen Protestmarsch. Auf ihren Protestplakaten stand: nichts.

Die Aktion bezog sich damals auf den Hintergrund des Vietnamkrieges, heute berührt sie für Festivalleiter Sven Till andere, ähnlich dringliche Fragen: „Wie haben sich politische Äußerungen auf der Straße seit damals verändert? Wer bestimmt heute den Raum in der öffentlichen Debatte? Und nicht zuletzt: Was ist heute Tanz? Der durch Halprin inspirierte Demonstrationszug wird auf zwei Routen durch den Potsdamer Stadtraum ziehen. Einmal von der Schiffbauergasse, an der Freundschaftsinsel vorbei über den Alten Markt bis zum Luisenplatz und einmal in umgekehrter Richtung vom Luisenplatz bis zur Schiffbauergasse.

Ideologisch vermintes, von verschiedenen Protesten vereinnahmtes Gelände also. Der Zug bewege sich „quer zur Mitte-Diskussion der Stadt“, schreibt Sven Till im Tanztage-Programm. Was heißen soll: jenseits der festgefahrenen Lager. Zudem, sagt Till, werde sich so mancher, wie er selbst, noch an die Potsdamer Demonstration im Jahr 1989 erinnern können. Gerade wer solche Erinnerungen im Gepäck trägt, dürfte sich von der Frage, was heute auf solchen Plakaten stehen sollte, durchaus berührt fühlen.

Für den eigentlichen Eröffnungsgong der Tanztage sorgt am 16. Mai „Hieronymus Bosch: Der Garten der Lüste“ im Hans Otto Theater. Kein Zufall, dass mit Marie Chouinard hier wieder eine kanadische Compagnie zugange ist: Unter dem Motto „150 Jahre Kanada“ haben sich die Tanztage 2017 neben der Entdeckung Brandenburgs auch der Entdeckung neuer kanadischer Künstlerinnen und Künstler verschrieben. Seit 1996 sind regelmäßig Stücke aus Kanada bei den Tanztagen zu Gast, seit 2013 unterhält die fabrik ein Kanada-spezifisches Residenzprogramm. Zu dem Kanadaschwerpunkt gehören in diesem Jahr neben Caroline Laurin-Beaucage und Marie Chouinard die Rubberdancegroup mit „Vic’s Mix“ und der in Potsdam bereits bekannte Frédéric Gravel, der mit seinem neuen Stück „This Duet that we’ve already done (so many times)“ zu Gast sein wird.

Das Stück „Hieronymus Bosch“ inszeniert die Choreografin Marie Chouinard in eigenen Worten als „Verbeugung vor einem Meisterstück“. Gemeint ist Boschs berühmtes um 1500 entstandenes Triptychon „Garten der Lüste“. Farbenfroh, fast naiv die fleischliche Lust feiernd, ohne moralisierende Maßregelung – und auch nicht ohne Religion. Eine utopische Verquickung? In dieser Suche, „nach einer Fleischlichkeit, die schuldfrei bleibt“, wie Sven Till es nennt, lässt sich ein Bogen vom spätmittelalterlichen Bosch zu einem weiteren Highlight der Tanztage 2017 schlagen: „May he rise and smell the fragrance“ von Ali Chahrour.

Der libanesische Choreograf, ein Shootingstar, bereitete sein Stück Ende Dezember letzten Jahres in der fabrik vor. Dass es am 17. Mai jetzt hier Europapremiere feiert, ist konsequent und erfreulich. Es dürfte zum Glamourfaktor in diesem Jahr beitragen – und ist ein weiterer Umweg, der zurück zum Ureigenen führt. Ein Stück über eines der letzten Tabus nämlich, das die westliche Welt und der vermeintlich ferne mittlere Osten gemeinsam haben: Männertränen.

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