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Freundinnen. Nadia (Juliane Götze) und Anna (Marie Fischer).

© Göran Gnaudschun

Radikalisierungsstück „Nadia“ im HOT: Radikalisierung und Islamismus im Hans Otto Theater

Mit dem Radikalisierungsstück „Nadia“ wagt sich das HOT an ein schwieriges Jugendthema – mit dem Mut zur Ratlosigkeit.

Potsdam - Die Welt ist eine Scheibe. Was früher schon mal stimmte, ist für die heute Sechzehnjährigen auf neue Weise so wahr wie nie zuvor. Für Anna und Nadia zum Beispiel. Sie gehen jeden Tag in die Schule, leben nach außen hin ein analoges Leben – aber die Welt, in der sie sich wirklich zu Hause fühlen, ist das Internet.

Anna kann hier mit ihrem neuen Blog Tagträumen von Beauty und Healthy Food frönen. Und „Nadia“, die Titelheldin des Jugendstücks, das am Dienstag in der Reithalle Premiere feierte, kann in Chats Fragen stellen, auf die sonst keiner Antwort weiß. Wie man sich in einer Welt zu Hause fühlen soll, die einen vor allem als Araberin wahrnimmt etwa. Oder was das eigentlich ist, der „reine Islam“.

„Nadia“, das Stück des Niederländers Daniël van Klaveren (Jahrgang 1983), erzählt die schwierige Geschichte, wie aus der ausgehfreudigen, gebildeten Tochter einer um Integration bemühten muslimischen Familie eine junge Frau wird, die im Kalifat hofft ihr Glück zu finden. Wie geschieht Radikalisierung, und warum? Große Fragen, die sich das Hans Otto Theater in seiner letzten Jugendtheaterinszenierung der Ära Tobias Wellemeyer vorgenommen hat. Um ihrer habhaft zu werden, verengt das Stück den Blickwinkel auf Anna und Nadia – und ihre Auftritte im Internet. Eltern, Lehrer, Mitschüler, sie alle kommen nicht vor.

Eine schwarze Welt, in der sich die Mädchen verlieren

Zu Beginn der Inszenierung von Kerstin Kusch springen die Schulfreundinnen Anna und Nadia noch gemeinsam als Partyhasen mit Tiermasken über die Bühne, bald aber wird klar, dass die beiden vieles trennt. Anna (Marie Fischer) sorgt sich um ihre „shareability“, Nadia (Juliane Götz) sorgt sich um die Welt, eine Welt, „die in Flammen steht“. Die beiden sind ganz deutlich als Gegensatzpaar entworfen: die quirlige, eitle Anna in Shorts und Glitzerleggins, Nadia mit dunkler Stimme in langem Rock, später mit Kopftuch. So wie Juliane Götz sie spielt, kann man dabei zusehen, wie die Verzweiflung von Nadia körperlich Besitz ergreift, sie windet und verknäult sich, hangelt sich an der Bühne entlang wie eine Ertrinkende. Eine Taumelnde, die erst bei dem strahlenden Lächeln von Brahim (Frédéric Brossier) Halt findet. Warum sich Nadia von ihm retten lassen will, erklärt sich von selbst.

Die Bühne (Nikolaus Frinke) deutet die Welt an, in der sich die Mädchen jede auf ihre Weise verlieren: mehrere schwarze Rahmen. Dazwischen bleibt nicht viel Platz zum Spielen, was inhaltlich passen mag (die Computer nehmen zu viel Raum ein), die Schauspielerinnen aber enorm einschränkt. Zusammen mit dem Stücktext, der die Frauen auf der Bühne größtenteils nicht miteinander, sondern mit der Videokamera oder groß auf eine Leinwand projizierten Messages kommunizieren lässt, wirkt das teilweise arg statisch.

Aber wenn Juliane Götz als Nadia über die Scheinheiligkeit der westlichen Welt tobt, über „die heuchlerischen Charlies“, die sich stets auf der richtigen Seite glauben, die meinen, alles zu dürfen, sogar ihre, Nadias, Familie niederbomben, dann kann man sich dem nicht entziehen. Und wenn Nadia dann Annas Welt verlassen hat, wenn diese Anna, die bisher so naiv daherkam, am Schluss einen neuen Glauben vorschlägt, einen „Glauben für Nicht-Versteher“, dann erklärt das nicht, warum Nadia ihr entglitten ist, aber bei diesem Glauben dabei sein will man sofort. „Verständnislosigkeit ist nicht zwangläufig das Ende.“

Die Vorstellungen im März sind ausverkauft, Karten gibt es für den 23. April

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