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Mittendrin. Zwischen den Brüdern Alaa Al Haidar und Jalal Mando (r.) liegen Welten, die beide nicht überbrücken können.

© HL Böhme

Premiere von "Gehen und Bleiben" in Potsdam: Das zweite Auge

Uraufführung in der Reithalle: Das Flüchtlingsstück „Gehen und Bleiben“ erzählt auf zarte Weise, was es bedeutet, zwischen zwei völlig verschiedenen Welten zu leben.

Potsdam - „Gehen und Bleiben“ – diese schwebende Überschrift könnte momentan auch für das Hans Otto Theater gelten. Bekanntlich wird der jetzige Intendant im Sommer 2018 gehen, und vermutlich große Teile des Ensembles mit ihm. Aber dass die Zeit bis dahin keinesfalls nur abgesessen werden soll, sondern das Theater voll und ganz da ist, dass vom Haus am Tiefen See bereichernde Beiträge zum Potsdamer Stadtgeschehen zu erwarten sind – davon zeugt auch das Stück, das am Freitag in der Reithalle Premiere hatte. Tragische Ironie, dass sich gerade jetzt, auf der Schlussgeraden sozusagen, solche inhaltlich wichtigen Beiträge mehren?

Der Text der Berliner Autorin Maxi Obexer, der hier zur Uraufführung kam, befasst sich mit einer größeren Dimension dieses Schwebezustands zwischen zwei Orten. Obexer und der Regisseur Clemens Bechtel, in Potsdam bekannt durch seine Dokumentartheaterabende „Staats-Sicherheiten“, „Vom Widerstehen“ und „Potsdam-Kundus“, luden für die Stückentwicklung zwölf Menschen ein, die ihre Herkunftsländer verließen und in Potsdam landeten. Aus Syrien und Ex-Jugoslawien, aber auch aus Frankreich und Israel. Gründe, wegzugehen, gibt es viele, das zeigt „Gehen und Bleiben“. Aber auch wenn einige von den Weggehern inzwischen viele Jahre hier leben, die alte Heimat bleibt ihnen eingeschrieben.

Die Heimat lässt einen nicht los

Das ist die These dieses Stücks: Die Heimat kommt mit ins Neue, ob man will oder nicht. Sie lässt einen nicht los, was nicht einmal heißen muss, dass die neue Heimat einen unglücklich machte. Es ist damit ein bisschen wie mit dem zweiten Auge von Jalal Mando. In einer Szene übt er einen locker-lustigen Skype-Austausch mit seinem Bruder, der in Syrien lebt und dort im Krieg ein Auge verlor. Um ihm näher zu sein, will auch Jalal nur auf einem Auge sehen: „Ich möchte die Welt sehen wie du“. Aber egal, was er auch versucht: Sein zweites Auge ist nun einmal da. Wie das neue Zuhause in Potsdam. Alles andere ist Behauptung. Den doppelten Blick auf Syrien – von drinnen und von draußen – wird Jalal nicht mehr los. Es ist das, was ihn vom Bruder trennt.

Gleich zu Anfang des Stücks kommt auch ein Thema auf den Tisch, das die im Saal sitzende Mehrheitsgesellschaft vor der eigenen Haustür abholt: die Sache mit der Sprache. „Am schlimmsten ist es, ohne Sprache zu sein, eure Sprache nicht zu sprechen“, sagt die aus Israel stammende Sharon Kotkowsky in gutem Deutsch. Vieles, was ihr wichtig war, passte nicht in ihr Gepäck, als sie sich nach Deutschland aufmachte. Ihr Job nicht, der Wochenmarkt nicht, das Meer, die Möwen. Eins aber passte rein: ein kleines deutsches Wörterbuch. Seitdem versucht sie, sich die Wörter einzuprägen. Doch die sperren sich, sagt Sharon Kotkowsky und presst dabei das Büchlein gegen ihre Schläfe. Es ist eine lustige Szene, die viel über den vergeblichen Versuch erzählt, hier anzukommen. Und über uns. Denn diesen Satz, den sie hinter der Stirn von Deutschen allzu oft liest – „Das wichtigste wäre, wenn sie jetzt mal die Sprache lernen würde“ –, wer hat ihn nicht schon gehört oder selbst gedacht?

Sprachen kommen auf die Bühne, die man im Potsdamer Alltag häufiger hört

Überhaupt, die Sprachen. Es gehört zur größten Stärke dieses Abends, dass hier Sprachen auf die Bühne kommen, die man im Potsdamer Alltag oft, im Potsdamer Theater aber sehr selten hört – Hebräisch, Arabisch, Russisch, Französisch, Englisch. Angélique Préau singt allein in drei von ihnen, und sorgt – ein zarter Höhepunkt des Abends – bei einem arabischen Lied für Mitsingen und Szenenapplaus. Was mindestens ebenso schön ist: Der auf Deutsch gesprochene Text zeigt durch die unterschiedlichsten Akzente, dass es nicht nur ein Deutsch gibt. Sondern, je nachdem, wer spricht, ein rollendes, kantiges, schwebendes oder verhauchtes Deutsch. Schönste Erinnerung an eine alte Erkenntnis: Man hört und hinterfragt Worte neu, wenn sie neu klingen. Das gilt nicht nur für Zungenbrecher wie „Integrationstest“. Wenn die Umwelt nicht nur akzentfreies Hochdeutsch spricht, warum sollte das dann im Theater der Fall sein?

Solche für deutsche Theater allerorten enorm wichtigen Fragen tischt „Gehen und Bleiben“ nebenbei mit auf. Ein starkes Thema, ein starker Text – warum verlässt man den Abend dennoch mit Zurückhaltung? Das liegt womöglich an dem enormen Ehrgeiz, der ihm zugrunde liegt. Zwölf Menschen stehen hier auf der Bühne (oft sitzen sie auch) – und für gut 90 Minuten sind die zwölf Schicksale, die sie mitbringen, offenbar doch ein zu großes Gepäck. Bechtels zurückhaltender Regie ist zudem ein großer Respekt vor dem Text anzumerken. Aber auch, wenn gar nicht jede einzelne Geschichte auserzählt oder illustriert werden soll – damit die einzelnen Beteiligten nicht zwischendrin wirken müssen wie Bühnendekor, wäre es gut gewesen, über einige noch mehr zu erfahren, sie auch körperlich präsenter sein zu lassen. Oder aber die Szenen, in den einzelne Themen künstlerisch verfremdet von mehreren aufgegriffen werden, weiter auszubauen.

Immer wieder gibt es Ansätze dazu. Dann ist dieser behutsame, zarte Abend am stärksten. Wie wenn der Laptop von Hand zu Hand geht: für alle auf der Bühne ein so unverzichtbares wie ungenügendes Bindeglied in die zurückgelassene Heimat. Ein weiteres Motiv ist der Hund, den man, als er anfangs aus einer Tür hervorguckt, noch für das komische Abbild des bissigen deutschen Schäferhundes hält. Später taucht er in der Geschichte von Nikola Antoun wieder auf, als traumatische Erinnerung an seinen Hund Shadow, den Antoun in einem umkämpften Gebiet Syriens aus den Augen verlor. Er fand ihn nicht wieder. Nur in Albträumen sucht er ihn heim.

"Bleiben und Gehen" wird am 23. März (bereits ausverkauft, eventuell Tickets an der Abendkasse), am 2., 8., 11., 12. und 13. April wieder aufgeführt. Mehr zum Stück finden Sie hier >>

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